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Zum ersten Mal verliebt

Titel: Zum ersten Mal verliebt
Autoren: Lucy Maud Montgomery
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zuliebe bei sich aufgenommen. Rilla liebte ihre Lehrerin heiß und innig, und da kein anderes Zimmer zur Verfügung stand, war sie sogar bereit gewesen war, ihr eigenes mit ihr zu teilen. Gertrude Oliver war achtundzwanzig Jahre alt und sie hatte es schwer gehabt in ihrem bisherigen Leben. Sie fiel auf durch ihre traurigen, mandelförmigen, braunen Augen, den hübschen, etwas spöttisch wirkenden Mund und die dichte schwarze Haarpracht. Sie war nicht hübsch, aber ihr Gesicht wirkte interessant und geheimnisvoll, und Rilla fand sie einfach faszinierend. Selbst wenn sie gelegentlich trübsinnig und zynisch war, hatte sie für Rilla immer noch etwas Bezauberndes. Solche Launen überkamen Miss Oliver jedoch nur, wenn sie müde war. Sonst war sie sehr umgänglich und steckte voller Ideen, und die fröhliche Schar von Ingleside vergaß dann ganz, dass sie doch um einiges älter war als sie selbst. Miss Oliver mochte Walter und Rilla besonders gern und sie war die Vertraute ihrer geheimen Wünsche und Sehnsüchte. Sie wusste zum Beispiel, dass Rilla sich danach sehnte »auszugehen«: Parties zu besuchen, so wie Nan und Di, und elegante Abendkleider zu tragen und - warum sollte man um den heißen Brei herumreden - Verehrer zu haben! Im Plural, wohlgemerkt! Und was Walter betraf, so wusste Miss Oliver, dass er eine Reihe Gedichte »an Rosamunde« (Faith Meredith) geschrieben hatte und dass er es sich zum Ziel gesetzt hatte, an irgendeiner großen Universität Professor für englische Literatur zu werden. Sie kannte seine leidenschaftliche Vorliebe für alles Schöne genauso wie seine tiefe Abneigung gegen alles Hässliche. Sie kannte seine Stärken und seine Schwächen.
    Walter war, wie eh und je, der hübscheste der Ingleside-Jungen. Miss Oliver schaute ihn deshalb gerne an. Er sah genauso aus, wie sie es sich für ihren eigenen Sohn gewünscht hätte: glänzendes schwarzes Haar, leuchtende dunkelgraue Augen und klare Gesichtszüge. Und die Fingerspitzen eines Dichters! Seine Gedichte waren wirklich bemerkenswert für einen jungen Mann von gerade zwanzig Jahren. Ohne für ihn Partei ergreifen zu wollen, wusste sie, dass Walter Blythe eine wunderbare Gabe besaß.
    Rilla liebte Walter von ganzem Herzen. Er neckte sie nie, so wie Jem und Shirley es gern taten. Er nannte sie nie »Spinne«. Sein Kosename für sie war »Rilla-meine-Rilla«, in Anlehnung an ihren richtigen Namen »Marilla«. Sie war nach Tante Manila von Green Gables getauft worden, doch Tante Marilla war gestorben, bevor Rilla überhaupt Gelegenheit hatte, sie richtig kennen zu lernen, und der Name als solcher war ihr verhasst. Sie fand ihn schrecklich altmodisch und spröde. Wieso riefen sie sie nicht bei ihrem ersten Namen »Bertha«, der klang doch so schön und würdevoll! Stattdessen immer dieses blöde »Rilla«! Gegen Walters Version hatte sie jedoch nichts einzuwenden, aber außer ihm durfte niemand sie so nennen, höchstens Miss Oliver ab und zu. »Rilla-meine-Rilla« mit Walters musikalischer Stimme klang einfach wunderschön. Wie das Plätschern und Sprudeln eines glitzernden Baches. Für Walter würde sie sogar sterben, wenn sie ihm damit etwas Gutes tun könnte, sagte sie im Vertrauen zu Miss Oliver. Rilla neigte, wie fast alle Mädchen im Alter von fünfzehn, leicht zu Übertreibungen. Doch am schlimmsten für sie war der Verdacht, dass Walter Di womöglich mehr von seinen Geheimnissen verriet als ihr.
    »Er denkt wohl, ich bin noch nicht erwachsen genug, um ihn zu verstehen«, beklagte sie sich einmal wütend bei Miss Oliver. »Aber ich bin erwachsen genug! Und ich würde niemals etwas weitersagen, noch nicht mal Ihnen, Miss Oliver. Ihnen verrate ich meine eigenen Geheimnisse - ich wäre todunglücklich, wenn ich vor Ihnen Geheimnisse hätte -, aber seine würde ich nie verraten. Ich erzähle ihm alles, sogar mein Tagebuch zeige ich ihm. Aber wenn er mir etwas verschweigt, dann leide ich furchtbar darunter. Er zeigt mir immerhin alle seine Gedichte. Die sind einfach wunderbar, Miss Oliver. Ach, was gäbe ich darum, eines Tages für Walter das zu sein, was Wordsworths Schwester Dorothy für ihn war. Dabei ist das, was Wordsworth geschrieben hat, überhaupt nicht vergleichbar mit Walters Gedichten. Von Tennyson ganz zu schweigen.«
    »Das würde ich nicht sagen. Beide haben eine ganze Menge Unsinn geschrieben«, sagte Miss Oliver trocken, fugte aber auf Rillas betroffenen Blick reumütig hinzu: »Aber ich glaube, dass Walter - irgendwann einmal -
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