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Zornesblind

Zornesblind

Titel: Zornesblind
Autoren: Sean Slater
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Dunkelheit fiel ihm Dalias angespannte, deprimierte Miene auf. Irgendetwas stimmte da nicht: Da konnte er mit dem Stock dran fühlen.

98
    Die Natter stand draußen auf der verharschten Wiese, sein heißer Atem wolkig weißer Nebel in der kalten Nacht. Seine Sneakers waren eisverkrustet, der Saum seiner Hosenbeine nass. Vor ihm trieb der Doktor bäuchlings in dem eisigen See.
    Er betrachtete ihren Körper und fühlte nichts. Weil es nichts bedeutete.
    Die Würfel waren einfach schlecht gefallen.
    Hinter ihm ertönte das leise schmatzende Schaben einer Schiebetür, dann hörte er Schritte auf der Veranda. Er sah sich nicht um. Es war ganz ohne Zweifel Dalia. Sie kam zurück, nachdem sie weggelaufen war – wie so viele Male zuvor. Flucht und Rückkehr. Flucht und Rückkehr. Flucht und Rückkehr.
    Es war ihr Leben.
    »Gabriel?«, fragte sie.
    Ihre Schritte näherten sich, dann kreischte sie unvermittelt auf.
    »Gabriel! Oh nein! Nein! Nein! Nein! Was hast du getan, Gabriel? Was hast du bloß getan! «
    Sie konnte sich gar nicht beruhigen. Er sagte nichts. Er senkte den Kopf und mied ihren Blick. Sekunden später hörte er, wie ihre Schritte sich entfernten. Sie lief am Haus vorbei. In diesem Moment schwante ihm, dass er sie verloren hatte. Sie war fort. Und er würde sie nie wiedersehen.
    Geh ihr nach, raunte es in seinem Kopf, weich wie das Flüstern der Engel.
    Nein, unmöglich. Es ging nicht. Er hatte andere Pläne. Pläne, die ihm alles bedeuteten. Dalia aufzuhalten würde den Ausgang des Spiels verändern. Und das war nicht vorgesehen. Er kannte die Spielregeln und hatte keine Wahl.
    Es war traurig, aber nicht zu ändern.
    Na und?, seufzte er bitter. Hatte er jemals eine Option gehabt? Vielleicht war es ihm so vorbestimmt. Schicksal. Nicht unmöglich, dass das Spiel heute Nacht mit seinem eigenen Tod endete.
    Er berauschte sich an der Vorstellung. Wenn der Tod kam, war er vorbereitet. Er akzeptierte den Tod. Er wäre glücklich darüber. Endlich wäre seine Stunde gekommen. Seine eigene Schöne Flucht. Er lächelte, denn dieses Spiel würde er auf jeden Fall gewinnen – mit dem größten Sieg seines Lebens, weil er entweder Jacob Striker von dieser Welt erlösen würde oder selbst Erlösung von seiner Heimsuchung fände. Er war bereit. Bereit für den letzten Wurf. Warum auch nicht? Nichts dauerte ewig.
    Alle Spiele kamen irgendwann einmal zu einem Ende.

99
    Dann ging alles sehr schnell. Als Striker die Schreie hörte, war er gewarnt. Dann sah er Dalia. Das Mädchen rannte um das Haus. Sie stürzte zwischen den Bäumen hindurch in Richtung Straße.
    Eine Sekunde später nahm Felicia die Verfolgung des Mädchens auf.
    »Stehen bleiben!«, gellte seine Kollegin. »Stopp, Vancouver Police! Dalia, bleiben Sie sofort stehen!«
    Dann wurden beide Frauen von der Dunkelheit verschluckt.
    Striker heftete sich kurz entschlossen an ihre Fersen.
    Nach einem kurzen Sprint hielt er hart inne. Ganz gleich, wer in dem Blockhaus war – Gabriel, Lexa oder beide –, wusste inzwischen zweifellos von der Anwesenheit der Polizei. Wenn er Dalia verfolgte, bot er Lexa und Gabriel die einmalige Chance zur Flucht. Dann konnten sie sich absetzen und sich womöglich dem Zugriff der Polizei völlig entziehen.
    Das Abwägen lief blitzartig in seinem Kopf ab.
    Felicia brauchte ihn. Wenn er jedoch zuließe, dass Lexa und Gabriel entkamen, würde das Morden nicht aufhören. Wie viele Opfer kämen dann noch auf deren Konto? Nicht hier, aber irgendwo anders, in einer anderen Stadt, einem anderen Land? Lexa empfand seit jeher eine sadistische Befriedigung am Töten, und sie würde weiter töten. Und Gabriel war die Natter, eine Mordmaschine und ihr williger Vollstrecker – darauf hatte sie ihren Stiefsohn programmiert. Nein, er musste den beiden das Handwerk legen, entschied Striker.
    »Sie müssen gestoppt werden.«
    Um jeden Preis.
    Striker wendete sich in Richtung Blockhaus. Es schien einsam und verlassen. Die Frontfenster waren dunkel. Hinter dem Haus brummte leise ein Generator.
    Dalia war durch den rückwärtigen Eingang geflüchtet.
    Striker zog seine Dienstwaffe und hielt in geduckter Haltung auf das Haus zu. Alles war ruhig, der See lag gespenstisch still. Nebel kroch wie ein schmutzig weißes Ungeheuer über das Wasser und durch die Bäume, versperrte Striker die Sicht über den See. Da draußen, irgendwo hinter der dünnen Eisfläche, ballte sich kalte, undurchdringliche Schwärze.
    Von Lexa oder Gabriel keine Spur.
    Striker glitt
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