Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Zornesblind

Zornesblind

Titel: Zornesblind
Autoren: Sean Slater
Vom Netzwerk:
1
    Die Maske war ganz aus schwarzem Leder mit schmalen, rechteckigen Aussparungen im Bereich von Augen und Mund. Zwei lange, dünne Lederriemen verliefen in Höhe der Augenschlitze zum Hinterkopf.
    »Die Natter« zog die Bänder straffer und kontrollierte den Sitz der Maske, dabei betrachtete er aufmerksam die junge Frau. Ihr Name war Mandilla Gill. Mandy. Er kannte sie gut.
    Sie war hübsch und jung – neunzehn, um genau zu sein – und an den Sessel gefesselt, aber nicht mit Stricken oder Klebeband, sondern durch die Medikamente, die er ihr verabreicht hatte. Mehr als alles andere war ihm jedoch daran gelegen, dass sie von der Dunkelheit und Kälte dieser Welt erlöst werden würde. Es war Zeit für ihre Rettung.
    Zeit für eine schöne Flucht.
    »Bitte«, flüsterte sie, ihre Stimme weich, entrückt.
    »Es ist alles okay«, erklärte er ihr. »Hab keine Angst.«
    Das Mädchen öffnete die Lippen wie zu einer Antwort und schloss sie wieder.
    Im Zimmer war es dämmrig und klamm, stellte er fest, die Wände rochen muffig feucht. Auf dem Boden türmten sich alte Zeitungen, schmutzige Wäsche, alle möglichen Abfälle. Die Natter trat über einen leeren Pizzakarton und inspizierte die Videokamera, die er direkt vor dem Fenster installiert hatte.
    Das Objektiv war perfekt auf das Zimmer ausgerichtet. Genau so wollte er es haben.
    Zufrieden schwenkte er herum und kniete sich vor das Mädchen. Sie atmete flach, alarmierend flach. Inzwischen war ihr Zustand verdammt kritisch. Und ihr Blick abwesend, apathisch, wie er trotz des schmutzig verwaschenen Dämmerlichts registrierte.
    Ihm blieb nicht mehr viel Zeit.
    »Bitte«, hauchte sie, und dieses Mal war ihre Stimme weit weg. Weit, weit weg.
    »Hab keine Angst«, wiederholte er. »Ich erlöse dich.«
    Die Natter lächelte und umschloss mit beiden Händen das Gesicht des jungen Mädchens. Er senkte seinen Blick in ihren, denn sie sollte wissen, dass er für sie da war.
    »Flieg davon, kleiner Vogel«, sagte er zu ihr. »Flieg davon.«
    Und das tat Mandy Gill.
    Sie stieg in den Himmel auf.

2
    Snake Eyes.
    Mandy Gill starb an einem kalten grauen Wintertag. Die Würfel des Lebens waren gegen sie gefallen. Sie hatte wieder einmal Pech gehabt. Wie immer, seitdem sie auf der Welt war. Sie starb einsam, in einem trostlosen, kalten Loch von einem Zimmer. Und das Schlimme war: Sie hätte nicht sterben müssen.
    Wenn sich jemand um sie gekümmert hätte.
    Der Gedanke flutete Detective Jacob Strikers Hirn, als er den Wagen zu der alten Hotelpension lenkte. Die Bude war die allerletzte Absteige. Eingeschlagene Fensterscheiben, die mit morschen Holzbrettern zugenagelt waren, an den Hausmauern wilde Graffiti, zwischen den Pflastersteinen wucherte der Giersch. Das war das Lucky Lodge Rooming House, und wer hier wohnte, war bestimmt kein Glückspilz.
    Mandy Gill war dafür das beste Beispiel. Ihre letzte Reise von hier würde sie in dem steifen weißen Plastiksack des Gerichtsmediziners machen – das miese Ende eines miesen Lebens.
    Game over. Du hast verloren.
    Mordermittler Detective Striker machte buchstäblich die Faust in der Tasche und schwang sich aus seinem Dienstwagen, einem Zivilfahrzeug. Er hasste diese Gegend. Solange er denken konnte. Strathcona, einmal Hölle und zurück für die Durchgeknallten und Drogenfreaks. Zu viele checkten ein, nur wenige wieder aus.
    So war das Leben im Lucky Lodge Rooming House.
    Im Laufe der Jahre, während seiner Zeit als Streifenpolizist und beim Morddezernat, war Striker so oft hier gewesen, dass er die Male nicht mehr zählen konnte. Überdosis. Suizid. Vergewaltigungen. Mord. Schlimme Sachen. Aber heute war es besonders schlimm.
    Aus persönlichen Gründen.
    Der Detective schüttelte den Gedanken ab und warf einen Blick auf die Uhr an seinem Arm. Vier Uhr, und es war schon fast dunkel. Er lief über den brüchigen Asphalt, an dem faulig braunes Laub klebte. Die schneidend kalte Januarluft roch nach Schnee, eisige Windböen schlugen ihm hart ins Gesicht, rissen an seinen Haaren.
    Er erreichte den Eingang, hebelte die Tür mit einem kurzen, gezielten Stoß seiner Schulter auf und drang ins Innere vor.
    Im Foyer war es dunkel, der Geruch von feuchtem Schimmel und Schwamm entströmte dem Verputz. Striker versuchte, jeden Kontakt mit den Wänden zu vermeiden. Alles war ruhig, wie ausgestorben. Eine ausgebrannte Glühbirne baumelte von der Decke, am Ende des Gangs die nächste.
    Sie flackerte seltsam.
    Striker durchquerte die Eingangshalle in
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher