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Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Titel: Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid
Autoren: Martin Clauß
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seiner Stelle den dünnen Arm. Als sie ein wenig daran zerrte, gab der Mann nach und ließ sich von der Dozentin mit kleinen, langsamen Schritten in einem Bogen zum Ausgang des Seminarraumes führen. Sie kam sich vor wie eine Altenpflegerin, die einen Heimbewohner stützte. Obwohl der Mann in der Kutte nicht direkt schwankte, wirkte er zerbrechlich.
    „Verzeihen Sie“, meinte der Alte. Er schien zu spüren, dass man ihn wegbrachte. „Ich bin noch nicht ganz fertig. Gewähren Sie mir noch einen Moment, bitte! Sie sind nicht Frau Kurleitner, nicht wahr?“
    „Wir halten nichts von Besuchen dieser Art“, sagte Margarete. Ob dieser Mann wirklich taub war, war noch nicht bewiesen.
    „Draußen stehen fünf schwarze Limousinen“, flüsterte ihr Artur zu. „Das ist unheimlich …“
    Obwohl der Mönch stehen zu bleiben versuchte, zog Margarete ihn weiter, und er fügte sich schließlich.
    „Falls Sie mich hören können“, versuchte es die Dozentin, „lassen Sie sich sagen, dass Melanie Kufleitner den Teufel tun und mit auf Ihr Kloster kommen wird.“ Sie wählte die respektlose Formulierung mit voller Absicht. Sie wollte sehen, ob er darauf reagierte.
    „Frau Kurleitner ist herzlich eingeladen“, sagte der Mönch, wieder mitten in ihre Worte hinein. Verdammt, falls er den Gehörlosen nur spielte, tat er es meisterhaft!
    „Frau Kufleitner geht nicht mit Ihnen! Sie geht nicht!“ Den letzten Satz schrie sie in sein Ohr.
    „Ich glaube, ich werde gehen.“ Das war Melanies Stimme.
    Margarete versteinerte, und der Mönch wandte sich ein wenig um. Der plötzliche Halt musste ihm signalisiert haben, dass etwas geschehen war.
    „Was hast du gesagt?“, fragte Margarete.
    „Das ist nicht der richtige Zeitpunkt für Scherze“, warf Traude Gunkel ein.
    Melanie scherzte nicht. Während sie die Situation beobachtet hatte, war ihr wieder in den Sinn gekommen, was Margarete am Vorabend auf ihre Frage geantwortet hatte – auf die Frage, was passieren würde, wenn sie Falkengrund einfach verließ. „Das tust du nicht“, hatte der kurze Kommentar gelautet. Als wisse Margarete besser als sie selbst, was sie tun würde und was nicht. Auch jetzt hatte die Dozentin für ihre Schülerin gesprochen, ohne mit der Wimper zu zucken: „Frau Kufleitner geht nicht mit Ihnen.“ Hatte irgendjemand Melanie gefragt? Hatte irgendjemand Melanie auch nur eine Chance gegeben, sich in Ruhe anzuhören, was der Fremde vorzubringen hatte, der offenbar einen weiten Weg gekommen war, um mit ihr zu sprechen? War irgendjemand jemals auf die Idee gekommen, dass Melanie entschied, was Melanie tat? Dass die Tatsache, dass alle anderen Menschen um sie herum entsetzliche Feiglinge waren, nicht unbedingt bedeuten musste, dass Melanie auch einer war?
    Ein Leben lang war sie bevormundet worden. Hasenfüße und Jammerlappen hatten versucht, ihr Schicksal zu bestimmen. „Sei vorsichtig! Tu das nicht! Fahr nicht zu schnell!“ Okay, sie war zu schnell gefahren und hätte dafür beinahe mit ihrem Leben bezahlt. Und? Es war ihr Leben. Hier auf Falkengrund hatte sich nichts geändert. Diese neurotische Madoka fühlte sich bedroht – schön! Was hatte das mit ihr zu tun?
    „Das Angebot klingt gut“, sagte sie laut in die Totenstille hinein. „Ich werde mir das einmal ansehen.“

4
    Das Interessante war, dass Melanie insgeheim ahnte, dass sie einen Fehler beging. Aber sie wollte ihn begehen, unbedingt sogar.
    Sich gegen all diese Angsthasen und Miesepeter zu wenden, ein Zeichen zu setzen und etwas zu tun, was Mut erforderte, Mut, Glaube und Hoffnung – das war erfrischend und berauschend zugleich. Unter den kritischen, fast schon verzweifelten Blicken ihrer Dozenten und Kommilitonen einfach mit einem Fremden wegzugehen, das war … ein überwältigend gutes Gefühl.
    Als Melanie die Autos vor dem Schloss stehen sah, drückte sie die knorrige Hand des Verhüllten vor Aufregung und Glück fester. Schwarze Karossen – der Inbegriff des Geheimen und Bösen! Genau solche Autos waren es gewesen, die sie sich als kleines Mädchen immer vorgestellt hatte, wenn ihre Eltern ihr einbläuten, nicht zu fremden Männern ins Auto zu steigen. Sie war dankbar für diesen Rat, auch wenn sie nie angesprochen worden war. Heute jedoch hatte man sie angesprochen. Man hatte ihr etwas in Aussicht gestellt, das man ihr vermutlich nicht würde geben können, aber das spielte keine Rolle. Sie war bereit, betrogen zu werden, alt genug, um zu wissen, was sie tat. Sie brauchte die
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