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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Autoren: Urs Widmer
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KEIN Schriftsteller, der bei Trost ist, schreibt eine Autobiographie. Denn eine Autobiographie ist das letzte Buch. Hinter der Autobiographie ist nichts. Alles Material verbraucht. Kein Erinnerungsrätsel mehr.
    Immer näher rücken mir die Erinnerungen in ihrer puren Nüchternheit. Ich bin in der Falle des eigenen Lebens. Es ist wie bei einer Sanduhr: Der Sand, anfangs überreich im obern Glas, rinnt unerbittlich nach unten, und an einem Tag ist die letzte Erfindung, die in etwas Erlebtem wurzelt, erzählt. Du bist nicht tot – das ist ein anderer Sand in einem andern Stundenglas –, aber du hast alle Geschichten erzählt.
    Außer: Du machst, hoffentlich rechtzeitig noch, aus deiner Not eine Tugend. Tust das Unabänderliche mit Lust und erfindest das Leben mit genau dem, was du erinnerst. Mit den Tatsachen. Mit dem, was du redlich und aufrichtig dafür zu halten gewillt bist. Denn früher einmal dachte ich, dass die Phantasie nichts anderes als ein besonders gutes Gedächtnis sei. Heute glaube ich eher, dass jedes Erinnern, auch das genaueste, ein Erfinden ist. Das Tatsächliche erinnern: Auch daraus kann nur ein Roman werden.
    Vermutlich aber gehorche ich nur einem banalen Gesetz der Menschen: Erst träumen wir von der Zukunft, dann leben wir sie, und am Ende, wenn diese gelebte Zukunft vergangen ist, erzählen wir sie uns noch einmal.
    SO wurde ich gezeugt: Meine Eltern, seit zwei Jahren verheiratet, verbrachten ihre Ferien im Lötschental. Das war damals so weit weg von jeder Welt, dass sie seinen Eingang kaum fanden. Der Zug hielt zwar in Goppenstein, direkt am Ende des Lötschbergtunnels. Aber da war dann nur ein einsames Stationsgebäude, eine unter Felswände geduckte Steinburg, und auf der andern Talseite, vor ähnlich steilen Fluhen und keinen Steinwurf entfernt, ein Haus, für das es keine Erklärung gab. Denn wer sollte hier wohnen? – Zwischen Haus und Bahnhof der Bach, ein reißendes Gewässer.
    Ins Tal gelangten sie durch einen Stollen, der so breit wie ein Maultier war, kaum breiter, und ohne Licht. Nasse Wände. Allerdings sahen sie den Ausgang bereits, als sie das Höhlenloch betraten. (Wie waren die Talbewohner vor dem Bau des Stollens in ihr Tal gelangt? Mit Hilfe einer Hängebrücke, die über dem gischtenden Bach hing? Auf einem heute verschwundenen Kletterpfad?) – Wie auch immer: Hinter dem Stollen öffnete sich das Tal, schön und grün und sonnig. An seinem Ende, fern, eine schneeglitzernde Bergwand mit einer Kerbe in ihrer Mitte, der Lötschenlücke, über der der blaue Himmel strahlte. Es gab keine Straße, oder nur eine, die den Maultieren gehörte, allenfalls einem Karren. In der Mitte des Tals, hinter Kippel, hörte auch der Karrenweg auf, und meine Eltern gingen hintereinander auf einem fußbreiten Saumpfad. Sie trotteten, ohne Maulesel oder gar einen Wagen, ihre prallvollen Rucksäcke auf dem Rücken, durch einen Weiler nach dem andern – Ferden, Kippel, Wiler –, bis sie in Blatten ankamen. Dem Ziel ihrer Sehnsucht. Es war das hinterste Dorf im Tal und roch heftig nach seinen Maultieren, aber meine Eltern störten sich nicht daran, sondern waren entzückt von all dem Urtümlichen. Ich habe keine Ahnung, warum es sie just in dieses Blatten verschlagen hatte, das zwischen dem Mittelalter und der Gegenwart keinen Unterschied machte und auf den Karten der Landestopographie nur zu finden war, wenn man mit einer Lupe danach suchte. Vielleicht durch Conrad Beck, einen Komponisten, der mit ihnen (seine Frau war auch dabei) und ein passionierter Berggänger war. Das Bietschhorn, das dann seine Beute wurde, ragte vor ihnen in die Höhe, jener furchterregende Viertausender, dessen Erstbesteiger der Vater Virginia Woolfes gewesen war. Ganz so unbekannt konnte das Lötschental doch nicht gewesen sein. Wie sonst hätte Virginia Woolfes Papa es sonst gefunden? – Aber noch immer riegelte der erste Schnee das Tal von der Außenwelt ab. Wer an diesem Schicksalstag in ihm drin war, blieb drin. Wer draußen war, musste auf die Schneeschmelze warten. Das war das Gesetz, gegen das es keinen Einspruch gab. Es gab kaum je einen Winter ohne einen Eingesperrten oder Ausgesetzten. Es gab sogar einen Winter ohne Pfarrer – der hatte seinen Kollegen in Gampel besucht und war, heimwärts stürmend, langsamer als der vom Himmel strömende Schnee gewesen –, und vier Lötschentaler starben ohne eine Letzte Ölung. Drei kleine Menschenkinder mussten bis zum Frühling auf ihre Taufe warten.
    Meine Eltern
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