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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Autoren: Urs Widmer
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Holzhäusern und ein paar Stadeln auf Pfählen und kreisrunden Granitplatten, die den Mäusen verboten, ins Heu zu gelangen. Am Beginn der Ferien, wenn wir von Goppenstein her kamen, wählten wir nun in Wiler einen steilen, noch schmaleren Bergpfad, der uns den Umweg über Blatten ersparte. Über uns, am Hang klebend, leuchtete während Stunden die Kapelle von Weißenried und war ein, zwei Male unerreichbar, auf diesem Weg wenigstens, denn der führte – Weißenried schon ganz nahe – über einen schier lotrecht nach unten tosenden Bergbach, dessen Brücke ein Baumstamm war, der vom einen Ufer aufs andere geworfen und so glitschig war, dass ich mich heute noch frage, woher meine Eltern den Wahnsinnsmut nahmen, mit Rucksäcken und einem Kind auf dem Buckel über ihn zu balancieren. Ein Ausrutscher, und Rucksack, Kind und Papa wären in der Tiefe verschwunden, im Nu bis zur Lonza hinabgespült und mit dieser bis in die Rhone und ins Mittelmeer. – Zwei, drei Male kehrten wir auch tatsächlich um, unser Heim in Griffnähe, gingen den ganzen Serpentinenweg bis Wiler zurück, auf dem Talboden nach Blatten und von dort, von der andern Seite her, in weit sanfteren Kehren hinauf nach Weißenried. Auch da stürmte mein Vater, der einen Herzfehler hatte, im Tempo eines Irren seiner Frau weit voraus und wartete dann nach Luft ringend auf sie. Ich, in seinem Rucksack, hüpfte auf und ab und kreischte vor Vergnügen und Sorge. Meine Mutter kam – ich umklammerte mit meinen Patschhänden Papas schweißnassen Schädel – mit ruhigen regelmäßigen Schritten näher. Wenn sie bei uns angekommen war, stürmten mein Vater und ich wieder los.
    DAS Haus, in dem wir nun waren (ohne Coni und Anni), stand mitten im Dorf, war schwarz verwittert, beinah fensterlos und hatte einen so niedrigen Eingang, dass sogar ich, der kleine Lötschi, mich bücken musste. Die Erwachsenen krochen durch die Eingangslücke. Sie führte in eine Küche, deren einziges Licht ein Feuer auf einem mächtigen Stein war, über dem an einem Haken ein riesigschwarzer Eisentopf hing. Der Schatten der Mutter, wenn sie in ihm rührte, hüpfte an den Wänden. – Eine Tür führte in ein Zimmer – jeder Erwachsene schlug sich mehrmals am Tag den Kopf an –, das zwei oder sogar drei Fenster hatte, Schießscharten allerdings eher, durch die immerhin einiges Tageslicht drang. Ein Tisch, eine Bank der Fensterwand entlang, ein paar Holzstühle. Kleine postkartenartige Bildchen an der Wand, ein Kreuz mit einem Heiland wohl auch. War da ein Ofen? Eine Öllampe fürs Licht (es gab im ganzen Tal keine Elektrizität). Wenn ich schlafen ging, nahm ich eine Kerze. Ich schlief in einem Zimmer, einem Verschlag im ersten Stock, den ich über eine Außentreppe hinterm Haus erreichte. In der Nacht fürchtete ich mich. Da lag ich unterm schrägen Dach. Meine einzige Verbindung zur Welt der Lebenden war ein Loch im Fußboden, den ein Holzdeckel mit einer Lederschlaufe verschloss, an der ich ziehen und dann ins Zimmer unter mir lugen konnte. Meine Eltern wussten gewiss nichts von dieser Öffnung (wer hatte sie warum in den Fußboden geschnitten?), denn ich sah direkt auf ihr Bett. Ich habe ausschließlich und nur die Erinnerung an die hell im Tageslicht strahlende Bettdecke (rotweiß gehäuselt). Ich ließ, wenn ich schlief, den Holzpfropfen offen. Die Geräusche der bewohnten Welt wiegten mich in den Schlaf.
    Eigentlich immer nahm mein Vater einen Jungen in unsere Ferien mit, jedes Mal einen andern. Hans, Willy, Oreste. Er war ein Lehrer und hatte sein Lehrerleben lang eine Handvoll Sorgenkinder um sich herum – nur Buben, denn er arbeitete an einem Bubengymnasium –, die er aus irgendeinem Schlamassel retten wollte. Gift und Galle zu Hause, und alle waren schlecht in der Schule. Sie machten mit uns Ferien, und mein Vater brachte ihnen jeden Morgen ein, zwei Stunden lang die Regeln des Subjonctif oder des Passé simple bei. Ich war immer jünger – am Gymnasium war man zwölf oder mehr – und also immer kleiner und schwächer und unwissender als meine Freunde auf Zeit. Eigentlich hätte ich gerettet werden müssen; keine Frage, dass ich auf diese Armee von Schutzbedürftigen eifersüchtig war. Aber ich spielte natürlich auch mit ihnen, mit Hans einmal Ball – ich meine: ein mal –, denn Hans warf mir den Ball zu, das Geschenk der Eltern für seine Ferien, und ich konnte ihn nicht fangen, und dann sahen wir beide, wie er, ein feuerroter Punkt, in immer größeren Sprüngen
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