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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Autoren: Urs Widmer
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Lachen, weil der Schreck so groß gewesen war. Ich war aber gesund, außer dem Hirn war nichts zerdrückt worden.
    Die ersten Wochen und wohl auch Jahre liegen in einem Nebel, wie auch anders. Gefühlte Erinnerungen, wenige Bilder. Immer aber schien die Sonne, da bin ich mir sicher. Ein warmes Strömen in mir, wenn ich an die frühe Zeit denke; einige Inseln des Schreckens. Gerüche (der Duft der Haut der Mutter?), Geräusche (ein sehr fernes Trommeln oder Rattern, das so stetig da war, dass ich es für ein Urgeräusch hielt; am deutlichsten aber das Scharren der Vögel, die im Rollladenkasten nisteten), die Hitze des Lichts auf der Haut. Manchmal, beim Erinnern, ein Panikhieb, ein Fratzenbild, das für den Hauch eines Augenblicks klar konturiert aufscheint (grün, lodernde Augen, Feuer) und doch so schnell wegschwimmt, dass ich es nicht festhalten kann. Der Schreck bleibt noch eine Weile.
    Das über mir schwebende Gesicht der Mutter: ein Mund, die Lippen, schwarze Augen. Sah ich Farben? Haare drum herum wie eine Löwin. Ihre Brust, eher ein Geruch, ich saugte so heftig an ihr, dass ich ihr weh tat. Diesmal war es die Mutter, die es mir immer wieder sagte. Bald kriegte ich eine Flasche mit Milch, deren Gummizapfen fremder schmeckte. – Der Vater, wenn er sich über mich beugte, füllte auch den ganzen Horizont. Er hatte aber keine Löwenmähne, er hatte überhaupt keine Haare und spiegelnde Gläser vor den Augen. Er sang tapsige Lieder, brummte improvisierte Verse – dumm, bumm, schrumm – und blies mir einen Rauch in die Nase, dessen Geruch ich bald mehr liebte als das kalte Ozon, das über mich hereinbrach, wenn meine Mutter wieder einmal das Fenster aufriss. Lüften war ihre Passion. (Ich wurde, als ich erwachsen war, ein Nichtraucher, der gern mit Rauchern zusammen war. Mit Raucherinnen. Ich hatte, wie sie, meine Lieblingsmarken, die ich aber nie rauchte. Gauloises, Gitanes.) – Zuweilen hechelte ein drittes Antlitz in meine Wiege hinein. Es gehörte Astor, der Dogge Onkel Erwins. Eine lange Zunge leckte mich, und ich kreischte.
    DIE Mutter, der Vater und Astor waren fraglos da. Es gab nur sie. Alles, was ich fühlte, dachte und lernte, bezog sich nur auf sie. Sie waren für mich da, für wen sonst. Sie waren so etwas wie die verschiedenen Teile eines Etwas, das meinen Hunger und Durst stillte und mich trockenlegte, wenn ich nass war. Obwohl sie aber nur wegen mir existierten, wurden sie immer erneut und ohne dass mich etwas darauf vorbereitet hätte, in einen Raum weggesaugt, von dem ich keine Ahnung hatte. Flupp, waren sie fort. Vielleicht war das gar kein Raum, sondern ein Zustand, in dem sie materielos schwebend verharrten und auf ihren nächsten Einsatz warteten. Wenn sie weg waren, taten sie nichts anderes. Sie waren weg. Ich schrie. Was schrie ich, und wie vergeblich.
    ICH begann die Erforschung der Welt auf dem Rücken liegend. Rechts und links waren die Stoffwände des Betts, hinter denen ich keine weiteren Welten vermutete. Das neue Licht überflutete mich, nach neun Monaten gemütlicher Trübnis im warmen Fruchtwasser. Ich blinzelte, riss die Augen auf und schloss sie schnell wieder. Alles, was weiter weg als die Stummelfingerchen direkt vor meinen Augen war, war ein so grelles Geleuchte, dass ich keine Farben unterschied. Hell, sehr hell, so leuchtend, dass ich die Augen schließen musste: Das genügte mir. Meine Finger fassten den Rand der Bettdecke und ließen sie wieder los. Das tat ich unermüdlich. Fassen, loslassen. Allmählich trat ein erstes scharf umrissenes Etwas, das nicht ganz nah bei mir war, aus dem diffusen Licht hervor, in das ich starrte. Eine Kugel, die über mir schwebte und, wenn der übrige Raum dunkel geworden war, selber leuchtete. Eine Lampe (»Lampe«). Auf dem Kugelboden häuften sich, innen hinterm trüben Glas, schwarze Trümmer an, unbewegliche Punkte. Nur hie und da, selten, bewegte sich einer von ihnen, eine Weile noch. War dann, wie die übrigen, auch eine tote Fliege (»toti Fliege«).
    Bald konnte ich sitzen, im Bett oder sogar auf der Wickelkommode (»Wickelkommode«), und zuweilen stand ich sogar, von meiner Mutter gehalten, auf dem Fensterbrett und presste meine Nase gegen das Glas. Zuerst sah ich gewiss, nach Kinderart, ausschließlich den kleinen Käfer direkt vor mir auf der Fensterscheibe, wenn meine Mutter »Schau dort, ein Häschen, schau!« rief und weit nach draußen deutete. Ich jubelte auf, meine Mutter jubelte, und beide freuten wir uns, jeder über
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