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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Autoren: Urs Widmer
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etwas anderes. Ferner Hase, naher Käfer.
    Dann aber sah ich sie auch: die Felder, den Wald, am Horizont die blauen Hügelberge, deren ruhiger Wellenfluss an einer Stelle von einem jäh abfallenden Knick unterbrochen wurde, einer Fluh, so als habe ein Riesengott dem Hügelzug einen Handkantenschlag versetzt. Wenn ich heute, ganz woanders, eine ähnliche oder gleiche Bergform sehe (die Natur wiederholt sich), wird mir warm ums Herz, bevor ich den Hügelknick sehe. Ich glühe unvermittelt auf jene besondere Weise, und also suche ich den Horizont ab: Und tatsächlich, dort ist sie, die Fluh meiner Kindheit, irgendwo in Brasilien oder Hessen. – In der Ferne auch, näher, ein Turm (»Wasserturm«). Rund, massiv, mit einem Dach wie ein Hut. Dass aus ihm das Trinkwasser in die Stadt hinunterfloss – und auch zu unserm Haus, obwohl es kaum tiefer stand –, erfuhr ich erst später und begriff noch lange nicht, wie das funktionieren sollte. Denn innen war der Turm, der bald das Ziel meiner Spaziergänge wurde, keineswegs voll Wasser, sondern leer und hohl. – Hie und da fuhr ein Auto unter meinem Fenster vorbei, wendete am Straßenende (unser Haus stand auch für Erwachsene am Ende der bewohnten Welt) und kam zurück. Meine Mutter und ich winkten. Autos waren damals so selten wie Maulesel heute. Mein erstes Wort – erneutes Hörensagen – war Auto (»Auti«). – Meistens aber Raben, Hasen, Schwalben, Katzen, die ich, wenn sie sich bewegten, auch Auto nannte. Einmal ein Mann – inzwischen war Winter, die Sonne ließ den Schnee glitzern –, der einen Hasen angeschossen hatte. Der Hase tobte oder taumelte auf zerfetzten Beinen im Kreis herum und sah zu, wie der Mann über die Ackerfurchen zu ihm hinstolperte. Er fasste zwei drei Mal daneben, dann packte er ihn bei den Hinterläufen und schlug seinen Kopf gegen die eisharten Schollen. Immer wieder. Endlich tat er den Hasen, der sich jetzt nicht mehr bewegte, in einen Sack, warf ihn sich über den Rücken und stapfte davon.
    ABER dann konnte ich gehen! Jetzt stand ich ohne Hilfe auf meinen Beinen, stützte mich an der Wickelkommode ab und fasste mein erstes Ziel ins Auge. Es war der Rahmen der offenen Tür, fern auf der andern Zimmerseite. Weit, sehr weit weg. (Kann sein, dass meine Mutter hinter mir war, meine ersten Schritte zu behüten. Denn wie sonst wäre ich aus dem Kinderbett hinausgekommen?) Ich holte tief Luft, ließ die Kommode los, setzte den ersten Fuß in die geplante Richtung, den andern, wieder diesen, jenen erneut, und so, immer schneller vorwärtstaumelnd und stumm vor Konzentration, kriegte ich das Rahmenholz der Tür zu fassen. Wahnsinn! Ich war förmlich geflogen! Vor mir nun ein Korridor, der Korridor (»Gang«), und an seinem andern Ende, sehr, sehr weit weg, die Wohnungstüre (»Wohnigsdüüre«), die sich just jetzt öffnete. Mein Vater, in Hut und Mantel. Das war also der Ort, wo die Verschwundenen warteten, bis ich für sie bereit war! Ich stürzte ihm entgegen. »Ja er kann ja gehen, der kleine Mann!«, rief er und hob mich hoch. Ich zappelte in seinen hochgereckten Händen und kreischte. Unter mir das Gesicht meines ebenso begeisterten Papas, aus dem mir die Zigarette entgegenglühte. Fern, als er mich hochstemmte, meine Nase versengend, als er mich zu sich niederzog. Die Mutter stellte mich auf den Boden zurück. Auch sie glühte vor Stolz. Ich spurtete erneut los, ins Esszimmer (»Ässzimmer«) hinein.
    An seinem Ende, neben einer Fensterfront, ein Schrank mit blauen Türen. (Der »Ässzimmerkaschte«. Wie viele Dinge gab es in dieser Welt, deren Namen ich noch nicht kannte! Ist es nicht ein Wunder, wie locker ich inzwischen »Fensterfront«, »Schrank« und »Welt« sage und noch viel mehr – alle Wörter dieses Buchs –, als sei das selbstverständlich?) Die Schranktüren waren aus einem matten Glas, das dennoch spiegelte und in dem ich, auf den Schrank zutaumelnd, eine Gestalt größer und groß werden sah, bis ich Auge in Auge mit einem blauen Riesen stand. Keine Spur kleiner als ich. Ich stützte beide Hände gegen das Glas – mein Gegenüber tat das Gleiche – und staunte die Erscheinung an. Mich. Ich sah mich zum ersten Mal. Meine Augen, direkt vor mir. Die Nase, platt. Den Mund. Blaue Locken. Ich bewegte den Kopf vom Glas weg, aufs Glas zu, einige Male. Mein Gegenüber, ich, tat, was ich tat, sogar als ich ihm zuwinkte und in die Hände klatschte. Ich näherte mein Gesicht dem Glas. Der Fremdvertraute auch. Endlich pressten wir
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