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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Autoren: Urs Widmer
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Papier wirbelten. Die Walze mit dem Papier ruckte vorwärts – Buchstabe reihte sich an Buchstabe – und klingelte, wenn sie an ihrem Ende angekommen war. Der Vater fetzte sie mit einem entschlossenen Ruck an ihren Anfang zurück. Das Ratschen! Das Aus-der-Walze-Reißen eines vollbeschriebenen Papiers, das Einspannen eines neuen: Das konnte mein Vater in einer Bewegung. Ich schlug auch auf die Tasten ein – mein Vater hielt mich nicht zurück; feuerte mich im Gegenteil an –, schaffte es aber nicht, die Tasten bis aufs Papier hinunterzudrücken. Auch nicht, als ich die ganze Faust nahm. Da verhedderten sich die vielen Buchstabenbügel. »Halt!«, rief mein Vater lachend und entwirrte das Metalldurcheinander. Ich half ihm, zerrte auch an den Bügeln herum. »Stopp!« Er hob mich von seinem Schoß hoch, setzte mich am Boden ab, und während ich ins Kinderzimmer zurückpurzelte, tippte er im alten Tempo weiter. Seine Rhythmen wurden leiser und leiser, und als ich bei meinem Bett angekommen war, klangen sie wieder so fern, als kämen sie aus mir.
    (SPÄTER entwirrte sich das Chaos des Wohnzimmers. Die Bücher an jenen Wänden, die nicht Fenster waren – in Papis Schreibhöhle vor allem –, wurden mir vertraut. Die Buchrücken, die eigentlich alle aus einem braunen Leder waren. Der Kaffeetisch [»Kaffidisch«], der auf dünnen Metallbeinen hin- und herschwankte, wenn ich mich an ihnen festhielt. Ich strahlte zu Mama und Papa hoch, die zu mir herunterlachten und den verschütteten Kaffee aus den Untertellern in die Tassen zurücktaten. – Die beiden Fauteuils [»Fotöi«], ein dunkelblauer und ein weißer, auf glänzenden Stahlrohrgestellen. Der Lehnstuhl [»Lähnschtuel«], blau, der auf gelben Holzkufen stand, wie ein Schlitten, und auf dem ich, weil er wippte wie ein Trampolin, auf und nieder hüpfte. »Nein, Uti!« Die Kufen barsten dann mit einem Knall, als sich meine Großmutter sacht in den Stuhl plumpsen ließ. – Die Stehlampe, auch sie mit einem spiegelnden Metallfuß. Die Couch, auf der eine vielfarbige Decke lag, die kratzte wie Putzwolle. Zwei Holzfiguren, die – wie der Dämon, der den Eingang zur Schreibecke bewachte – tatsächlich aus Afrika stammten und auf einem niederen Regal standen. Ein Mann und eine Frau. Beide mit starren Augen und langen Kinnen. [An sie muss ich mich nicht erinnern. Sie haben mich überallhin begleitet und stehen über meinem Schreibtisch von heute.] Und natürlich der Marconi [»Marconi«], der Radio und Grammophon in einem war. Er war ein truhengroßes Möbel aus Nussbaumholz, mit abgeschrägten Seitenwänden und drei Lautsprecheröffnungen aus einem sandfarbenen Jutestoff. – Ich erforschte auch die Küche, das Bad und das Klo [»Abee«]. Nur ins Zimmer, in dem Papa und Mama schliefen, kam ich nie. Die Tür war zu.)
    DIE übrigen Bewohner des Hauses waren (denn ich fand bald einmal heraus, dass ich, Astor, Papa und Mama nicht die einzigen Lebewesen auf Erden waren): Carino, Onkel Erwin und Tante Norina. Sie lebten im Stockwerk über uns, in das ich nun auch – über eine Treppe mit einem roten Teppich – hochkletterte. Aufwärts auf allen vieren, abwärts auf dem Hosenboden von Stufe zu Stufe rutschend und einmal auch, mich überschlagend, schneller als jeder Erwachsene.
    Carino zuerst. Er war eine Dogge wie Astor, sein Bruder vielleicht, aber anders als dieser offen bösartig. Augen aus mattem Stahl, Zähne, die er mir bei jeder Bewegung zeigte. Kaum eine Minute, in der er nicht knurrte. Er war sogar seiner Herrin und seinem Herrn – Norina und Erwin eben – so unbehaglich, dass sie ihn in einem Zwinger im Garten wohnen ließen. Da rannte er einen hohen Gitterzaun entlang und bellte auch wie ein Tobsüchtiger, wenn nur ich über die Granitplatten des Gartenwegs gehüpft kam. Zuweilen war er mit Erwin, der Stöcke warf, die Carino im Flug auffing und hechelnd zurückbrachte. Manchmal auch schleifte er Norina, an seiner Leine zerrend, da- und dorthin. Er zerbiss alles, was ihm ins Maul geriet, Bälle, Hölzer, Gartenschuhe. Sicher hätte er es auch mit Kindern getan, hätte er einmal eines erwischt. Onkel Erwin war dennoch nicht sicher, ob Astor und Carino wirklich so scharfe Wachhunde waren, wie er das von ihnen erwartete, und beauftragte einen Freund, der Herr Schwarz hieß, sie auf die Probe zu stellen. Herr Schwarz kletterte also, finster gekleidet und mit einem mit dicken Polstern umwickelten linken Arm, über den Gartenzaun und schickte sich an,
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