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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Autoren: Urs Widmer
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o nein!, aber dort gelassen, bis ich den Mut fand, es May zu zeigen. Jetzt war ich so weit. Wenn nicht jetzt, wann dann. (Sie hatte ja auch erst noch Deutsch lernen müssen.) Ich gab ihr den Papierstapel. Sie setzte sich vors Zelt, im Schneidersitz, und begann zu lesen. Sie las und las, ruhig, ohne jede Hast, und legte jede gelesene Seite neben sich. Ihr Gesicht verriet nicht, was sie dachte und fühlte – kann sein, dass sie ein, zwei Male lächelte –, und ich sah ihr zu, solange ich es aushielt, schaute dann zur Raffinerie hinüber, die im Abendschatten grau wurde, beobachtete wieder May – sie las wie eine Sphinx –, versuchte auch zu lesen, blickte wieder zu May hin und erneut auf die Raffinerie. Ein sanfter Wind, der nach Schwefel roch.
    Endlich legte May die letzte Seite neben sich. Sie sah mich an.
    »Ja!«, sagte sie.
    »Meinst du, ich soll die Geschichte einem Verleger zeigen?«
    »Unbedingt.«
    Sie stand auf, kam zu mir herüber und gab mir einen Kuss. Die Sonne versank im Horizont. Die Raffinerie, die eben noch eine schwarze Silhouette gewesen war, erstrahlte plötzlich in tausend Lichtern. Gelb, orange, rot. Sie sah jetzt wie ein Weltraumbahnhof aus, oder wie das Raumschiff selbst, das bereit war, zu einer Reise an den Rand des Universums zu starten. May setzte sich neben mich, und wir staunten beide das Wunder an.

DIE Sechzigerjahre. Irgendetwas braute sich weiterhin, aber immer fühlbarer zusammen. Etwas, das 1945 zu keimen begonnen hatte – scheu und vorsichtig zuerst auf mehr Demokratie und mehr Bürgerfreiheiten hinzielte – und dann volle 23   Jahre brauchte, um politisch formuliert zu werden. Um im big bang vom Mai 1968 wortstark und effizient neue gesellschaftliche Spielregeln zu fordern. Keine Revolution – nur beinah –, aber eine wirkungsmächtige Reform.
    Denn nun waren die Kinder, die in den Fünfzigerjahren noch klein gewesen waren, erwachsen geworden. Mündig. Natürlich blickten sie in Deutschland (aber auch in Frankreich oder Italien) in blutigere Abgründe als in der Schweiz. So waren es vor allem die Deutschen, die immer entsetzter fragten, wie es kommen konnte, dass Regierende, Richter und Professoren, die jede Menge braunen Dreck am Stecken hatten, immer noch in Rang und Würden waren. Als sei nichts geschehen. Ja, dass sie und ihre gesellschaftspolitischen Überzeugungen (»Ruhe und Ordnung«) von den Mächtigen nach wie vor erwünscht waren, weil sie die Macht- und Besitzverhältnisse stabil hielten. Es waren vor allem die CDU und die CSU die Parteien, die jene fatale Kontinuität garantierten. In der Schweiz war es die FDP , die die Spiele der Macht am erfolgreichsten spielte. Ein Telefongespräch zwischen dem Paradeplatz in Zürich und dem Bundeshaus in Bern genügte, um dieses oder jenes Problem aus der Welt zu schaffen.
    Verändert hatte sich auch die Rolle der USA . Sie war nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bewundert und geliebt worden, denn sie hatte einen »guten« Krieg geführt und uns alle – auch uns Heutige gewiss noch! – davor bewahrt, in einem von Nord bis Süd faschistischen Europa leben zu müssen. Wie liebten wir sie dafür! Unsere Dankbarkeit war riesig und echt. Aber in den Sechzigerjahren wurde sichtbar, dass diese USA – der Hort der freiheitlichen Demokratie – sich in Auseinandersetzungen verstrickt hatte, die als gut, notwendig und gerecht zu empfinden mehr und mehr schwerfiel.
    Es war der Vietnam-Krieg – der Krieg der Sechzigerjahre –, der auch treue Freunde der USA verstörte. Wir konnten nicht mehr übersehen, dass diese eben noch so geliebten Amerikaner selber Schlächter geworden waren, blinde Ideologen und grobe Machtmenschen. My Lei allerspätestens (1968), wo eine Handvoll US -Soldaten ein ganzes Dorf abschlachtete, Männer, Frauen, Kinder, wurde zum Symbol eines Amerika, das nicht mehr für Demokratie und Freiheit, sondern für einen brutalen Anspruch auf Macht stand. Weltmacht.
    Schon zu Beginn der Sechzigerjahre vereiste der Krieg, der schon in den Fünfzigerjahren kalt geworden war, vollends. Die USA und die Sowjetunion rüsteten in einem Maß auf, dass einem angst und bange wurde. Die Mauer, die die DDR von der Welt des Westens abriegelte, wurde gebaut (1961). Die Kuba-Krise (1962) wurde – zu Recht – als erster Höhepunkt der Bedrohung wahrgenommen, als die fatale Erfahrung, dass der Sowjetunion gegenüber tatsächlich nur eine Machtpolitik wirksam zu sein schien, die einen Krieg nicht ausschloss. Auch einen mit
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