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Der Leichenkeller

Der Leichenkeller

Titel: Der Leichenkeller
Autoren: Linda Fairstein
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    »Mord. Sie hätten ihn wegen Mordes anklagen sollen.«
    »Er hat niemanden umgebracht, Euer Ehren.« Noch nicht. Nicht, dass ich es beweisen könnte.
    »Geschworene lieben Mord, Ms. Cooper. Das sollten Sie besser wissen als ich.« Harlan Moffett las die Anklageschrift noch einmal, während die Gerichtspolizisten die sechzig potenziellen Geschworenen in den kleinen Saal trieben. »Geben Sie diesen Amateuren eine Leiche, einen Gerichtsmediziner, der ihnen sagt, dass die Stichwunde im Rücken nicht von eigener Hand zugefügt ist, einen Ganoven, der sich zur Tatzeit irgendwo in der Nähe von Manhattan herumtrieb, und ich garantiere Ihnen einen Schuldspruch. Aber das Zeugs, das Sie mir hier immer wieder anschleppen!«
    Moffett unterstrich jeden der Anklagepunkte mit seinem roten Füllfederhalter. Neben dem Namen des Angeklagten in der Kopfzeile des Dokuments, Volk des Bundesstaates New York v. Andrew Tripping , zeichnete er ein Strichmännchen, das am Galgen baumelte.
    Mein Gegner war erfreut gewesen, als man den Fall heute Nachmittag an Moffett übergeben hatte. So hart der alte Fuchs auch bei Mordfällen war – als er vor dreißig Jahren zum Richter ernannt wurde, machte die Gesetzeslage es praktisch unmöglich, Vergewaltigungen vor Gericht zu bringen. Keine Zeugen, keine erhärtenden Beweise, folglich keine strafrechtliche Verfolgung. Moffett erinnerte sich gern an die alten Zeiten.
    Wir standen beide auf dem Podest vor Moffett und beantworteten seine Fragen zu dem Fall, für den wir in Kürze die Geschworenen auswählen sollten. Ich versuchte, mir meine Chancen auszumalen, während ich ihm dabei zusah, wie er auf meiner Anklageschrift herumkritzelte.
    »Sie haben Recht, Euer Ehren.« Peter Robelon lächelte, während Moffett die Zeichnung des Gehängten schraffierte. »Alex hat die klassische ›Er-hat-gesagt-sie-hat-gesagt‹-Situation. Sie hat keine physischen Beweise, keine gerichtsmedizinischen Befunde.«
    »Würden Sie bitte leiser sprechen, Peter.« Dem Richter konnte ich nicht befehlen, seine Stimme zu senken, aber vielleicht verstand er den Wink. Robelon wusste so gut wie ich, dass die zwölf Personen, die in der Geschworenenbank Platz nahmen, uns hören konnten.
    Moffett legte die Hand hinters Ohr. »Etwas lauter, Alexandra.«
    »Würde es Ihnen etwas ausmachen, diese Unterhaltung in Ihrem Ankleidezimmer fortzusetzen?« Mein Wink mit dem Zaunpfahl war dem Richter entgangen.
    »Alex hat Angst, dass die Geschworenen hören können, was sie ihnen ohnehin in ihrem Eingangsplädoyer sagen wird. Schall und Rauch, Euer Ehren. Mehr hat sie nicht zu bieten.«
    Moffett stand auf und signalisierte uns, ihm nach nebenan in das kleine Büro zu folgen.
    Das Zimmer war bis auf einen alten Holzschreibtisch und vier Stühle kahl. Die einzige Dekoration waren die Namen und Telefonnummern aller nahe gelegenen Pizza-, Sandwich- und Fastfood-Buden, die die Gerichtspolizisten im Laufe der Jahre an die abblätternde graue Wand neben dem Telefon geschmiert hatten, wenn sie für die Geschworenen etwas zu essen bestellen mussten.
    Das Sirenengeheul der Polizeiautos, die fünfzehn Stockwerke tiefer auf der Centre Street vom Polizeipräsidium ins nördliche Manhattan rasten, übertönte unser Gespräch. Moffett schloss das Fenster.
    »Wissen Sie, warum Geschworene Mord so gern haben? Weil es so einfach ist.« Der Richter wedelte mit den weiten Ärmeln seiner schwarzen Robe. »Eine Leiche, eine Waffe, ein unnatürlicher Tod. Sie wissen, dass ein schreckliches Verbrechen begangen worden ist. Man braucht nur irgendeinen Halunken ins Spiel zu bringen und sie schicken ihn in den Knast.« Ich wollte etwas sagen, aber er zeigte mit dem Finger auf mich und redete weiter. » Sie hingegen verbringen bei jedem Vergewaltigungsprozess die meiste Zeit allein damit zu beweisen, dass überhaupt ein Verbrechen stattgefunden hat.«
    Moffett hatte nicht Unrecht. Das Schwierigste an diesen Vergewaltigungsfällen war, die Geschworenen zu überzeugen, dass tatsächlich ein schweres Verbrechen begangen worden war. Für einen Mord gibt es normalerweise mehr oder weniger einleuchtende Gründe, an die sich die zwölf Geschworenen halten können. Gier. Wut. Eifersucht. Untreue. Alle Todsünden und noch ein paar mehr. Die Staatsanwaltschaft muss kein Motiv vorlegen, aber in den meisten Fällen schält sich eines heraus, das wir den Geschworenen zur Erwägung unterbreiten.
    Mit Sexualverbrechen ist es eine andere Geschichte. Niemand kann sich vorstellen,
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