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Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Reise zum Rand des Universums (German Edition)

Titel: Reise zum Rand des Universums (German Edition)
Autoren: Urs Widmer
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unsere Nasen aufeinander. Ich starrte in die großen blauen Augen des andern.
    Aber irgendetwas lockte meinen Blick dann doch von meinem Spiegelbild fort. Es war ein Leuchten, das mich anzog. So etwas wie glühende Luft. Ich drehte mich also zu dem lockenden Licht hin und stand starr vor Verblüffung. Ich vergaß mich und mein blaues Gegenüber auf der Stelle. Vor mir lag, vom Rahmen einer Schiebetür eingefasst, eine Landschaft, die so reich war, dass sie kein Ende zu haben schien. Das Wohnzimmer (»Wohnzimmer«), das auch für Große groß war. Ich stand wie die Forscher der frühesten Jahre, als sich Schwarzafrika zum ersten Mal vor ihnen auftat. Mungo Park, Livingstone, die gewiss genauso erregt nach Luft schnappten wie ich es jetzt tat. Es war auch ihr erstes Mal, und auch sie erkannten, wie ich jetzt, in der neuen Fülle vorerst nichts Klares und Vertrautes. Auch sie konnten nicht auf Anhieb sagen, wo das eine anfing und das andere aufhörte. Ob die schwarzen Stämme der Urwaldbäume nicht doch reglose Eingeborene waren, die sie herzlich empfangen oder auffressen mochten.
    Der Zimmerkontinent leuchtete in allen Farben. Zwar sah ich weder Bäume noch Eingeborene; aber Grünpflanzen und feurige Blumen in bauchigen Vasen. Teppiche wie Wiesen, mit Wollfäden, die knöchelhoch wuchsen. Möbelbeine, Stahlrohre, Bücherwände, schwarzgeflammte Hölzer, Dämonenfratzen an den Wänden und ein zähnefletschendes Holzmonster auf dem Boden. Fische in grünem Wasser, Bilder in heftigen Farben, Decken und Kissen. Riesige Fenster. Ich blickte dahin, dorthin, auf jenes und auf dieses, weit in die Ferne und nah vor mich hin. Als ob ich in ein Kaleidoskop für Riesen hineinsähe, auf sich immer neu ordnende Farbmuster. Das Sonnenlicht strahlte. So etwas hatte ich noch nie gesehen.
    UND sofort, um das Wunder vollständig zu machen, setzte, von nah und doch ohne eine sichtbare Quelle, jenes Trommeln ein, jenes Geratter, das ich, fern allerdings, seit meinem ersten Tag gehört hatte und das mir so selbstverständlich geworden war, dass ich glaubte, es sei der Herzschlag der Welt. Es hatte einen sich wiederholenden Rhythmus und war doch nie gleich. Ein Rattern, ein Ratschen. Das Geklingel einer Glocke auch, in stets ähnlichen Abständen. Jedes Mal hörte dann das Rattern auf, und das Ratschen setzte ein. Pausen auch, kurze, nach denen das Trommeln umso vehementer wiederkam, als müsse eine verlorene Zeit eingeholt werden. Kurbeln und Schnarren.
    Ich stürzte dem Zaubergetöse entgegen. Kann sein, dass ich mich unterwegs an Möbelbeinen oder Stehlampen festhielt. Dass ich hinfiel und mich wieder aufrappelte. Ich erreichte jedenfalls das andere Ende des Raums, der sich dort zu einer Art Bucht erweiterte. Einer dunklen Höhle. Das Geschepper war nun sehr nah, und jäh begriff ich, wo es herrührte. Von meinem Vater. Er produzierte diese Laute! Sein Hinterkopf ragte über eine breite Stuhllehne hinaus. Über seinem nackten Schädel schwebten die Kringel seines Zigarettenrauchs. Wie war er hierhergelangt? So schnell? Er war doch eben noch bei der Wohnungstür gestanden! Ich taumelte ein letztes Mal los und hielt mich am Stuhl oder, mag sein, an einem Bein des Vaters fest. »Papa!«, mit einem in den Nacken gelegten Kopf zum Vatergesicht steil über mir hochrufend. Er bemerkte mich nicht, mein Papa, starrte auf etwas, was ich nicht sah, und hatte einen spitzen Mund, als ob er pfiffe. (Pfeifen konnte er auch mit der Zigarette.) Sein einer Arm und gewiss auch die unsichtbare Hand lagen ruhig auf der Tischplatte, aber der andere hob und senkte sich rasend schnell. Der Zeigefinger fuhr weit ausgestreckt in die Höhe und verschwand hinter dem Horizont der Schreibtischkante, tauchte wieder auf, verschwand erneut, in einem solchen Tempo, dass ich nur ein Gewirbel sah, tausend Finger, die wie besessen auf- und niederfuhren. Das Schlaggeprassel war nun dröhnend laut. Mir war klar, dass diese Wirbelfinger es verursachten.
    »Papa!«, rief ich. »Papi!«, so lange, bis mein Vater aus seiner Trance erwachte, den Zeigefinger da ließ, wo er gerade war – hoch über seinem Kopf –, und rief: »Ja hallo was machst du denn hier?« Er setzte mich auf seine Knie, und endlich sah ich die Quelle all dieser herrlichen Trommellaute. Die Schreibmaschine (»Schribmaschine«). Schwarz, schön, geheimnisvoll. Der Vater schrieb nun mit mir auf den Knien, mich von hinten umarmend, und ich sah zu, wie die Buchstabenbügel aus ihrer Versenkung hochfuhren und aufs
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