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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel
Autoren: Andreas Götz
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    »ICH HAB ANGST, Tristan.«
    Bitte nicht! Du killst mich, Mädchen. Mach jetzt bloß keinen Rückzieher!
    »Tristan?«
    Ich muss was sagen. Ihr gut zureden. Aber ich kann nicht. Ich will auch nicht mehr. Wieso bin ich plötzlich so müde? So matt? Das Einzige, wozu ich imstande bin, ist, sie stumpf anzusehen. Aber eigentlich sehe ich sie gar nicht. Was ist nur mit mir los? Alles kommt mir auf einmal so sinnlos vor. Was mache ich hier eigentlich?
    »Du musst nicht«, höre ich mich sagen, »dann geh ich eben allein …«
    Und es ist mir tatsächlich egal. Alles.
    Doch da legt sie ihre verschwitzte Hand auf meine, und wie ein Stromschlag durchfährt es mich: diese Hand! Diese ekelhafte Hand, die ihn angefasst hat! Und damit kommt die Kraft zurück. Die Energie. Nein, ich will es! Je schneller ich es zu Ende bringe, desto besser.
    Ich überwinde mich, drücke ihre Hand und sage: »Lass uns gehen, mein Engel …«
    Sie sieht mich an, aus feuchten Rehaugen.
    Wenn sie wirklich kneift, erwürge ich sie mit diesen meinen Händen. Sogar das könnte ich jetzt, wenn ich müsste.
    Ich ziehe meine Hand aus ihrer, steige aus dem Bett und gehe zum Schreibtisch. Unsere Abschiedsbriefe liegen wie aufgebahrt nebeneinander, und diagonal darüber eine schwarze Rose. Sarah ist so schrecklich kitschig. Gott sei Dank konnte ich ihr ausreden, dass wir einen gemeinsamen Brief schreiben. Ich überfliege die dürren Abschiedsworte an ihre Eltern, ihren kleinen Bruder, ihre Freunde. Am Schluss die Sätze: Niemand ist schuld an meinem Tod. Ich sterbe aus freiem Entschluss.
    Ich beuge mich über den Stuhl, greife in die Innentasche meiner Jacke und hole das Tütchen mit dem Zyankali heraus. Hoffentlich wirkt es bei Sarah genauso schnell wie bei dem Köter. Es können keine zwei Minuten gewesen sein, bis der hinüber war.
    Wow. Mein Puls jagt auf einmal wie wild. Ich spüre meinen Herzschlag bis unter die Kopfhaut.
    Wird schon gut gehen.
    Ich stelle mich vor die beiden Cola-Gläser, damit Sarah vom Bett aus nicht sehen kann, dass ich das Gift nur in eines mische. Sie vertraut mir bedingungslos. Wieso auch nicht? Ich liebe sie mehr als mein Leben. Ha, ha! Mit den beiden Gläsern gehe ich zum Bett und reiche Sarah das eine. Meines halte ich fest umschlossen in der Hand. Während sich in ihrer Cola aus Kaliumzyanid und Kohlensäure tödlich giftige Blausäure bildet, sieht Sarah mich ergeben an.
    »Geht es auch wirklich schnell?«
    Ich nicke.
    »Tut es weh?«
    Ich zucke mit den Achseln. »Denk nicht drüber nach.«
    Statt endlich zu trinken, lässt sie ihr Glas sinken, stellt es auf ihrem Oberschenkel ab und starrt hinein. Etwas bedrückt sie noch, und ich weiß genau, was es ist. Nicht zu fassen. Sie ist so eine dreckige Schlampe! Sogar im Angesicht des Todes denkt sie noch an so was. Am liebsten würde ich ihr ins Gesicht schlagen.
    »Komm, mein Engel«, sage ich mit honigsüßer Stimme, »lass es uns jetzt tun.«
    »Küssen wir uns vorher gar nicht?«
    Es muss wohl sein. Ich neige mich zu ihr, drücke meine Lippen auf ihren leicht geöffneten Mund. Sofort drängt sich ihre Zunge in meine Mundhöhle, glitschig und beweglich wie ein Aal. Ihre Hand packt mich an der Schulter, so fest, dass es wehtut. Nein, sie wird nicht trinken, wenn ich jetzt nichts unternehme. Am liebsten würde ich ihr das Zeug mit Gewalt einflößen, aber ich reiße mich zusammen, ein letztes Mal. Ich löse mich und nehme ihre Hand, die das Glas hält, hebe sie bis auf halbe Höhe zu ihrem Mund. Ich hauche ihr Dinge ins Ohr, die sie jetzt hören will.
    »Mein Engel, gleich sind wir für immer vereint. Ist unsere Liebe diesen Schmerz nicht wert?«
    Sie nickt und sieht mich mit diesem dummen Hundeblick an. Ein langer Moment vergeht. Noch einer. Sie will noch etwas sagen, aber ich verschließe ihren Mund mit zwei Fingern.
    »Keine Worte«, flüstere ich. »Stirb leise, mein Engel.«
    Endlich setzt sie das Glas an die Lippen.
    »Wir sehen uns auf der anderen Seite«, sage ich und winke dabei sogar. Tränen rinnen aus ihren Augenwinkeln, während die Cola ihre Kehle hinabläuft. Soll ich gnädig sein und auch trinken, damit sie in ihren letzten Minuten Trost darin findet, dass wir wirklich gemeinsam gehen? Alles in mir widerspricht. Ich stelle mein Glas auf den Nachttisch, verschränke die Arme vor der Brust und warte, bis es endlich, endlich losgeht.
     
    WIE LANGE BEWEGT sie sich schon nicht mehr? Atmet sie noch? Diese blicklosen Augen sind mir unheimlich. Sie ist
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