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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel
Autoren: Andreas Götz
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überrascht. Einfach so, ohne besonderen Anlass. Ich weiß noch genau, das Wetter war super und alles, und plötzlich klingelte es an der Tür und meine Mutter rief: ›Geh du, Sascha, ich glaub, es ist für dich.‹ Sie wusste natürlich Bescheid. Ich machte also auf, und da stand er vor mir, mein Vater, und er sagte: ›Mitkommen, junger Mann, Sie sind verhaftet! Geht das nicht ein bisschen schneller?‹ Und dann –«
    Sascha sah plötzlich das helle Licht jenes Tages, und den Streifenwagen sah er auch und Papas lächelnden Kollegen am Steuer und Papa, der genauso lächelt und ihm die Tür aufhält und sagt: ›Einsteigen, aber ein bisschen plötzlich!‹ Und dann hebt sein Papa ihn auch schon auf den Sitz und sagt: ›Ohne Kindersitz, ausnahmsweise, die Polizei wird uns schon nicht erwischen‹, und dann schlägt die Tür zu … Und Sascha erinnerte sich noch, wie das Leder und der Stoff der Sitze rochen – nicht so toll, irgendwie nach kaltem Schweiß – und wie sich alles anfühlte, und das Funkgerät rauscht und knistert immer wieder, und dann steigt sein Vater ein, und sie fahren los und …
    In diesem Augenblick, während er sich noch erinnerte, spürte er, dass etwas auf ihn zurollte. Er wusste erst nicht, was es war, und als er es erkannte, war es schon zu spät, um es noch aufzuhalten, also ließ er es einfach kommen. Mit voller Wucht ging es über ihn hinweg, dieses tosende Gefühl aus Trauer und Schmerz und Wut und Sehnsucht, wie eine gigantische Welle, ein Tsunami, es packte und schüttelte ihn durch und ließ ihn seine Umgebung völlig vergessen.
    Und dabei hatte er noch so gut wie nichts von jenem Tag erzählt: nichts von dem Blaulicht, nichts von der Pistole, die er hatte berühren dürfen, nichts von dem riesigen Eisbecher auf der Heimfahrt. Er konnte es nicht, weil die Tränen einfach nicht aufhören wollten zu fließen und das Schluchzen einfach herauswollte und herausmusste und kein Ende finden wollte …
     
    OKAY, JETZT IST es raus, dachte Sascha auf dem Weg nach unten. Ich bin ein Weichei. Wie hatte er nur derart die Fassung verlieren können? Das war noch nicht mal eine richtige Therapiestunde gewesen, bloß ein erstes Kennenlernen. Aber Androsch hatte ihn auch übel ausgetrickst mit seiner netten Art und der scheinbar harmlosen Frage. Es war sein Job, Leute zum Flennen zu bringen – Scheißjob, übrigens –, insofern musste man zugeben, dass er ziemlich gut war. Aber was brachte es? Sascha fühlte sich nicht erleichtert, sondern einfach nur leer. Oder besser: Er fühlte sich wie durchgekaut und ausgespuckt. Und das sollte er von jetzt an jede Woche mit sich machen lassen? Na, vielen Dank!
    Als er mit einem heftigen Ruck die Haustür aufriss, fiel sein Blick auf den Rücken eines Mädchens, das vor dem Gebäude auf den Stufen saß. Sie drehte sich zu ihm um. Große, glänzende Augen sahen ihn an, so ähnlich wie die Mädchen in japanischen Mangas sie hatten. Und dazu ein kleiner Mund mit aufgeworfenen Lippen, der Sascha an eine Kirsche denken ließ. Sie sagte nichts, sondern drehte sich nach ein paar Sekunden wieder weg, um weiter an einem schon ziemlich zerfledderten Papiertaschentuch zu rupfen. Sascha stieg an ihr vorbei zum Bürgersteig hinab. An der Straßenecke wandte er sich noch mal um. Sie war weg.
    Ich sag Mama einfach, dass ich mit dem Typen nicht kann, dachte er später im Bus. Aber dann suchte sie ihm wahrscheinlich sofort einen anderen Therapeuten. Nein, so leicht kam er aus der Nummer nicht raus. Es gab eigentlich nur einen Ausweg: Er musste sie davon überzeugen, dass er keine Therapie brauchte. Dass er über die Sache so gut wie hinweg war. Bloß, wie sollte er das anstellen?
     
    SASCHA STIEG EINE Haltestelle zu früh aus. Er wollte das letzte Stück gehen. Noch ein bisschen Luft schnappen, bevor er ankam. Als das Unbehagen wieder hochdrängte, dachte er: Was ist schon dabei? Es sind nur zwei Quadratmeter Erde.
    Und warum hast du dann geschlagene elf Monate gebraucht, bist du endlich mal hier auftauchst?
    Vielleicht wäre es anders – besser – gewesen, wenn seine Mutter ihm erlaubt hätte, seinen Vater ein letztes Mal zu sehen. So, wie Sascha es verlangt hatte. Er hätte das schon verkraftet. Schließlich war er auch vor elf Monaten kein kleiner Junge mehr gewesen. Aber sie hatte nur gesagt: »Behalte deinen Vater so in Erinnerung, wie er war, als er noch gelebt hat.« Das hatte ihm erst recht Angst gemacht. Wieso durfte er ihn nicht sehen? Was war mit ihm
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