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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel
Autoren: Andreas Götz
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passiert?
    Seine Finger glitten über die Backsteinmauer. In dem Maße, wie er seine Schritte verlangsamte, beschleunigte sich sein Herzschlag. Schon tauchte das Tor auf. Dann stand er vor dem schmiedeeisernen Gatter, das einen Spaltbreit offen stand. Dahinter: Gräber. Eines am anderen.
    Jetzt bloß nicht kneifen, dachte er.
    Er musste wissen, ob er cool war oder ein Opfer. Normal oder ein Psycho. Dieser Seelenklempner sollte einsehen, dass sein Gequatsche überflüssig war und dass es rein gar nichts bedeutete, dass er vorhin so geflennt hatte. Und seine Mutter sollte endlich begreifen, dass sie nicht immer recht hatte und dass er ganz genau wusste, was er brauchte und was nicht.
    Das Gatter quietschte in den Angeln, als er es aufschob. Kies, der unter seinen Fußsohlen knirschte. Ein steinerner Engel sah ihn an, der Zeigefinger auf den Lippen mahnte zur Stille. Sascha erinnerte sich genau an ihn. Den breiten Weg hinab, dann die dritte Abzweigung auf der rechten Seite. Auch daran erinnerte er sich. Die Trauerhalle unter der hohen Kuppel. Der hellbraune Sarg, die Blumen und Kerzen. Er erinnerte sich.
    An alles erinnerte er sich, als wäre es gestern gewesen. Seine Mutter, die dasteht, im schwarzen Kostüm.
Mein Beileid. Mein Beileid. Der arme Junge.
Polizisten in Uniform, die den Sarg aufheben und tragen, den ganzen Weg. Die Polizeikapelle spielt einen leiernden Trauermarsch. Er selbst an Mamas Arm. Nicht ganz klar, wer wen stützt. Die rechteckige Grube. Der Erdhaufen unter einer grünen Plane.
Von der Erde bist du genommen, zur Erde kehrst du zurück. Asche zu Asche, Staub zu Staub.
    Er erinnerte sich.
    Wie sollte er das auch je vergessen!
    Irgendwo hinter all den Grabsteinen musste sein Vater liegen. Sascha umrundete einen besonders wuchtigen und blieb schlagartig stehen, denn er fand sich unvermittelt vor einem von welken Kränzen und Blumengestecken bedeckten Erdhügel wieder. Ein noch junges Grab. Am Kopfende erhob sich ein schlichtes Holzkreuz, an dem ein schwarzer Schleier und das Foto eines Mädchens befestigt waren. Der Anblick traf Sascha wie ein Faustschlag. Sein Herz raste auf Hochtouren. Der Schweiß brach ihm aus. Er wollte weitergehen. Konnte nicht. Nachdem er ein paarmal auf der Stelle getreten hatte, drehte er sich um. Nach ersten zaghaften und noch unschlüssigen Schritten fing er an zu laufen und rannte schließlich den Weg, den er gekommen war, zurück. Wieder auf der Straße, blieb er stehen und atmete tief durch.
    Scheiße, dachte er. Ich bin doch ein Opfer, ein Psycho. Klar, Mann, sagte es in ihm, was hast du denn geglaubt? Du kriegst schon einen Herzschlag, wenn es nur an der Tür läutet.
    Im Bus musste er wieder an das Mädchen auf dem Foto denken. Das Mädchen in dem Grab. Sie hatte so jung ausgesehen, höchstens so alt wie er. Während ihm das bewusst wurde, kroch eine Gänsehaut über seine Unterarme. Was mochte der Grund sein für ihren frühen Tod? Obwohl er nichts über sie wusste, konnte er nicht aufhören, an sie zu denken.
     
    ALS SASCHA ZU Hause ankam, stand Joy auf dem Bürgersteig und bastelte an einem Fahrrad herum. Mist, dachte er, ausgerechnet jetzt. Obwohl sie und ihre Mutter schon über eine Woche hier wohnten, hatte er noch so gut wie kein Wort mit ihr gewechselt. Dabei hätte er sie gerne kennengelernt. Sie sah nett aus. Leider hatte sich bisher keine Gelegenheit ergeben. Heute allerdings, nach allem, was er hinter sich hatte, war er nicht zu Small Talk aufgelegt. Und dass sie ihm womöglich ansah, dass er geflennt hatte, wollte er schon gar nicht riskieren.
    Er war ungefähr auf fünf Meter heran, als Joy aufblickte. »Hi«, grüßte sie.
    »Hi.«
    Sofort wandte sie sich wieder ihrem Rad zu. Er wollte schon an ihr vorbeigehen, als sie ihn, ohne aufzuschauen, bat: »Kannst du mal kurz halten?«
    »Äh …«, machte er.
    »Dauert höchstens ’ne Minute.«
    Zögernd nahm er den Lenker und sah zu, wie sie an der Bremse herumschraubte. Ihre Handgriffe wirkten ziemlich professionell, obwohl er das eigentlich nicht beurteilen konnte, denn in praktischen Dingen war er eine totale Niete. Dann betrachtete er ihre unordentlich hochgesteckten Haare, ihr ovales Gesicht mit den großen, dunklen Augen, die schlanke Figur. Von Nahem war sie noch hübscher als aus der Ferne. Und für ein paar Momente ließ ihn ihre Nähe sogar vergessen, was das bisher für ein Scheißtag gewesen war.
    »Du heißt Sascha, oder?«, sagte sie irgendwann.
    »Mhm«, machte er.
    »Schöner Name. Ich bin
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