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Stirb leise, mein Engel

Stirb leise, mein Engel

Titel: Stirb leise, mein Engel
Autoren: Andreas Götz
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Führerhaus des Lasters stiegen, sich daneben aufstellten und beinahe gleichzeitig nach ihren Zigarettenschachteln griffen. Sie hatten sich ihre Glimmstängel gerade angezündet, als ein weinroter Golf heranbrauste, abrupt bremste und rückwärts vor dem Laster einparkte. Eine Frau stieg aus, ging auf die Männer zu und fing ein Gespräch mit ihnen an. Sascha schätzte sie ungefähr auf das Alter seiner Mutter. Auch den Kleidungsstil schienen sie zu teilen: Jeans, T-Shirt, Sneakers.
    Die Männer nickten viel, sagten wenig, rauchten ihre Zigaretten. Da öffnete sich die Beifahrertür. Es dauerte aber noch eine ganze Weile, bis zwei schlanke Beine in Cargohosen zum Vorschein kamen; und dann noch einmal ein paar Sekunden, bis auch der Rest folgte. Ein Mädchen. Oder eher eine junge Frau. Hübsch. Dunkelhäutig. Ungefähr in seinem Alter.
    Sie stemmte die Arme in die Seiten und streckte den Rücken durch, so als hätte sie eine lange Fahrt hinter sich, obwohl das Auto ein Münchner Kennzeichen hatte. Dann legte sie den Kopf in den Nacken, und ihr Blick ging nach oben, genau in seine Richtung.
    Sascha machte einen Satz nach hinten, weg vom Fenster. Fast wäre er dabei auf seine Playstation getreten. Hatte sie ihn bemerkt? Hatte er so auffällig hinuntergestarrt? Quatsch, beruhigte er sich, bestimmt hatte sie gar nicht zu ihm hochgeschaut, sondern zu den Fenstern nebenan, den Fenstern ihrer neuen Wohnung.
     
    SASCHA LEGTE DAS Comicheft weg. Er hatte keine Lust auf einen weiteren Wutausbruch des gewaltigen Hulk. Durch die offenen Balkontüren nebenan schwappten immer wieder kurze Wortwechsel zu ihm herüber. Welche Möbel wo stehen sollten, welche Umzugskiste in welches Zimmer, welches Regal an welche Wand gehörte. Den Namen des dunkelhäutigen Mädchens hatte er auch aufgeschnappt: Joy.
    Schön, fand er. Ob das ihr richtiger Name war? Oder nur ein Spitzname? Die Amis hatten ja oft Namen, die was bedeuteten: Joy – Freude; Hope – Hoffnung; Grace … Das bedeutete auch irgend so was, er kam nur gerade nicht drauf, was. War sie also Amerikanerin? Die beiden redeten allerdings in perfektem Deutsch miteinander.
    »Die Aussicht ist nicht so toll«, hörte er sie plötzlich so laut, als stünde sie neben ihm. Und das tat sie ja auch beinahe, nur eine dünne Sichtschutzwand trennte sie voneinander. Die Stimme dieser Joy klang nicht besonders mädchenhaft, ein bisschen dunkel und irgendwie sandig. Vielleicht ist sie ja die Tochter eines Bluessängers aus New Orleans, dachte er scherzhaft.
    Nach ein paar Sekunden kam lautes, metallisches Klappern von drüben, anscheinend kramte sie in einer Werkzeugkiste.
    »Wo ist denn der Kreuzschlitzschraubenzieher? Mama, hast du den?«
    »Ich?«, hallte es aus der Wohnung zurück. »Na sicher, in der linken Hosentasche.«
    »Scheiße. Haben wir den etwa liegen lassen?«
    »Keine Ahnung. Ich weiß nicht mal, wie das Ding aussieht.«
    »Na toll!«
    Sascha schmunzelte, fasste nebenbei in seine Hosentasche und erschrak. Shit, dachte er. Er hatte sein Handy nicht eingesteckt. Falls seine Mutter angerufen oder eine SMS geschickt hatte, machte sie sich bestimmt Sorgen. Er verschwand nach drinnen, fand das Handy auf dem Garderobentisch und kontrollierte, ob entgangene Anrufe oder Nachrichten angezeigt wurden. Aber da war nichts.
    Vielleicht hatte sie noch keine Zeit gehabt, sich zu melden. Und wenn ihr was passiert war? Das flaue Gefühl, das er nur zu gut kannte, breitete sich in seinem Bauch aus. Es würde nicht mehr weggehen, bis sie endlich anrief. Oder er sie. Er suchte ihre Handynummer im Adressbuch heraus und starrte sie auf dem Display an. Seine Mutter mochte es nicht, wenn er sie ohne Grund bei der Arbeit störte.
    Ich frage sie einfach, was sie zu Abend essen will, dachte er, dagegen kann sie nichts einwenden, und – Da schrillte die Türglocke. Der Ton bohrte sich in ihn hinein, er glaubte jeden einzelnen Nervenstrang vibrieren zu spüren. Herzrasen. Enge in der Brust. Schweißausbruch. Wenn er öffnete … Zwei Männer, sie kommen auf ihn zu, mit betretenen Gesichtern.
Deine Mutter … Es tut uns leid …
Nein! Nicht an die Tür gehen, warnte etwas in ihm. Ja nicht an die Tür gehen!
    »Mist, keiner zu Hause«, hörte er nach einer Weile eine dunkle, sandige Mädchenstimme draußen sagen.
    Die neue Nachbarin!
    Nur die neue Nachbarin.
    Wieso ging diese verdammte Angst nicht weg?
     
    ERST ALS ER endlich den Schlüssel im Schloss der Wohnungstür hörte, löste sich die Anspannung.
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