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Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Titel: Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid
Autoren: Martin Clauß
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Wartenden stellten sich in einem Halbkreis um den letzten der Neun und streckten ihm ihre rechten Hände entgegen, die Handflächen nach oben gedreht. Er ging langsam von einem zum andern, verharrte vor jedem. Während er mit der Linken ihr Handgelenk festhielt, schrieb er mit dem Ringfinger der Rechten Zeichen auf ihre Handflächen.
    Übersetzte in ihre Sprache, was das Wesen ihm in einem System aus Bewegungen mitgeteilt hatte.

2
    Sie kam sich vor wie in einem Gerichtssaal.
    Sie selbst saß auf der Anklagebank, die Japanerin mit dem ausdruckslosen Gesicht stand schräg vor ihr, die Arme vor der Brust verschränkt und den Blick beinahe, aber nur beinahe auf sie gerichtet. Das Hohe Gericht, die Geschworenen, Werner Hotten, Traude Gunkel und Margarete Maus, bildeten da vorne ein seltsames Muster aus Peinlich berührt – Sezierend – Peinlich berührt. Die beiden Gastdozenten Dr. Konzelmann und Professor Cavallito fehlten, und man hatte keine Stühle für sie gebracht. Melanie war dankbar für beides. Jeder Anwesende war einer zu viel, jeder trug seinen Teil zur ihrer Schande bei, sogar leere Stühle taten das.
    Die Studenten hatten sich vollzählig eingefunden. Melanie konnte sich nicht entscheiden, ob sie sie zu den Zuschauern rechnen sollte, oder ob die Tische, an denen sie saßen, als Zeugenbänke betrachtet werden mussten. Die Anwesenden tuschelten mit nicht übermäßig gedämpften Stimmen, und Melanie bemühte sich vergeblich, nichts davon zu verstehen. Artur hatte sich in die letzte Reihe verzogen, und das versetzte der Studentin einen schmerzhaften Stich. Ihn hätte sie gerne neben sich gewusst, auch wenn er letztlich auf Madokas Seite war. Sie war ziemlich sicher, dass sie im Verlauf der nächsten Stunde mindestens einmal Lust bekommen würde, ihn anzubrüllen, und es würde ihr unangenehm sein, ihn vorher erst dort hinten suchen zu müssen.
    Melanie gestand es sich ein: Sie war furchtbar müde und gereizt. Ein ganzer Abend voller zäher Streitigkeiten mit Madoka, dem Rektor und den Dozenten lag hinter ihr – das hätte sie auch dann noch ausgelaugt, wenn sie sonst keine Sorgen gehabt hätte. Melanie war der Meinung, dass ihr Geheimnis ihr Geheimnis bleiben durfte, dass sie ein Recht darauf hatte, über ihre Vergangenheit zu schweigen oder wenigstens in Ruhe darüber nachzudenken, ehe sie andere einweihte. Obwohl Werner und Margarete sie anfangs unterstützten und es ausgesehen hatte, als würde das siegen, was sie für Fairness hielt, war Madoka fleißig gewesen und hatte mithilfe von Traude Gunkel ein Horrorszenario gemalt. Die Asiatin hatte das Risiko, das von Melanies Vergangenheit ausging, zu einer Bedrohung unvorstellbaren Ausmaßes hochstilisiert.
    Falkengrund – so ihre Worte – stand möglicherweise am Rande eines Abgrunds, dessen Tiefe nicht abzuschätzen war.
    Als erstes war Werner gekippt. Dreimal hatte er versucht, sich unter dem Vorwand dringender Arbeiten aus dem Gespräch auszuklinken, dann war er von einem Moment zum anderen unter den geschickt vorgetragenen Argumenten weggeknickt. Stumm hatte er am Tisch gesessen wie ein Schuljunge, der beim Abschreiben ertappt worden war. Was suchte nur dieser schuldige Ausdruck auf seinem Gesicht?
    Margarete Maus hatte sich lange Zeit hinter die Studentin gestellt, vielleicht aus einem starken Gerechtigkeitsdenken heraus, vielleicht, um sich der Gunkel widersetzen zu können. Deren Aufnahme in die Dozentenschaft Falkengrunds hatte sie noch immer nicht geschluckt, und sie rieb sich mit ihr, wann immer sich eine Gelegenheit dazu bot. Aber auch auf Margarete war kein Verlass gewesen – auch sie hatte schließlich klein beigegeben. Aus welchen Gründen heraus, das war Melanie nicht ganz klar geworden. Sie hatte die Dozentin und Hexe bereits insgeheim als ihre Verteidigerin in dem Prozess zu sehen begonnen, der auf sie zukam.
    Nun war die Position des Verteidigers eben als einzige freigeblieben. Und Melanie konnte sich deswegen nicht einmal beschweren, denn natürlich würde man ihr antworten, ein Prozess finde nur in ihrem Kopf statt. In Wirklichkeit, so würde die äußerst freundliche Erklärung lauten, setze man sich nur ein bisschen zusammen, um alle über etwas zu informieren, was eben alle etwas anging.
    Das wusste sie selbst. Es war sogar so ziemlich das einzige, was sie wusste. Alles andere war ein chaotischer Wirbel aus lange verdrängten Erinnerungen, die keinen Sinn machten.
    Was sie zwei Jahre lange für einen Traum gehalten hatte, wurde ihr
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