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Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid

Titel: Zimmer d. Wahrheit - Schatzjäger - Zelluloid
Autoren: Martin Clauß
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Beschreibungen, die uns von Seelen aus dem Totenreich gegeben wurden, weist nichts in diese Richtung. Auch die Near-Death-Experiences sagen nichts dergleichen. Wir haben alle wichtigen Abhandlungen zu diesem Thema in der Bibliothek. Ich lege meine Hand dafür ins Feuer, dass es nicht das Jenseits war, was sie sah. Nur, damit wir gleich wissen, wovon wir sprechen – oder nicht sprechen …“
    „Ich habe angenommen, dass es ein Traum war“, meinte Melanie und schluckte den schalen Speichel hinunter, den die Aufregung in ihren Mund trieb.
    „Und was hat Sie dazu gebracht, von dieser realistischen Annahme abzugehen?“ Die dünnen Lippen der Gunkel schimmerten violett. Im Gegensatz zu den anderen Dozenten siezte sie die Studenten.
    „Einfache Frage. Das war unsere süße Madoka“, entgegnete Melanie.
    Alle Blicke sammelten sich bei der Japanerin. „Süße Madoka“, echote Harald genüsslich und klatschte einmal in die Hände.
    „Wenn sie nie zuvor auf Schloss Falkengrund war, kann sie es im Traum nicht so sehen, wie es wirklich ist“, sagte die Asiatin. Madokas Augen waren noch immer starr ins Nichts gerichtet. Melanie erkannte zum ersten Mal, dass unter ihrer kalten Oberfläche Nervosität Wellen schlug. Die Augenlider zuckten. Irgendwie behagte ihr das. Wenigstens die Anspannung hatten sie beide miteinander gemein. Das war nur fair.
    „Aber es wäre doch möglich“, gab Margarete zu bedenken, „dass Melanie als Kind einmal hier war und sich nicht mehr daran erinnert. Verschüttete Erinnerungen kommen in Träumen manchmal an die Oberfläche.“
    „Nein, sie ist eine Spionin!“, platzte Madoka heraus. Ihr Kopf ruckte hoch, und ihr Blick sprang wild im Raum umher. Melanie war schockiert darüber, dass sie so plötzlich und so früh im Verlauf des Gesprächs die Beherrschung verlor. Das sah ihr überhaupt nicht ähnlich. Zum ersten Mal kam Melanie der Gedanke, dass gar nicht sie es war, für die hier am meisten auf dem Spiel stand, sondern Madoka. Die Japanerin war es, die eine Beichte abzulegen hatte, nicht sie. Sie hatte nichts Unrechtes getan. „Mein Bruder war genau darüber informiert, wo ich mich aufhalte, und er behauptete, mich kämpfen gesehen zu haben. Er muss durch ihre Augen hindurch geblickt haben – eine andere Erklärung gibt es nicht!“
    „Ich vermute sogar, dass es einen ganzen Berg anderer Erklärungen gibt, meine liebe Madoka“, meldete sich zum ersten Mal jemand aus den Reihen der Studenten. Es war Felipe Diaz, der Mexikaner. Sein dunkles, langes Gesicht hatte in seiner absoluten Humorlosigkeit manchmal etwas von dem legendären Schauspieler Klaus Kinski an sich. „Erklärungen, die auf weniger fantastische Hypothesen zurückgreifen. Dein Bruder könnte auf anderen Wegen von deinem Aufenthaltsort erfahren haben. Jemand wird dich gesehen haben, außerhalb von Falkengrund.“
    „Sie hat die Schule fast nie verlassen“, brachte sich Sanjay ein.
    Felipe wandte ihr das Gesicht zu. „Richtig – die Betonung liegt auf ‚fast’. Und was die Behauptung des Bruders angeht, sie gesehen zu haben“ – er hob eine Augenbraue, ohne die andere zu bewegen – „wo steht geschrieben, dass Brüder nicht ab und an einmal lügen dürfen?“
    Melanie nahm die Unterstützung aus unerwarteter Richtung unsicher zur Kenntnis. Madoka hatte eine Handvoll fragwürdiger Argumente für ihre Anschuldigung. Die meisten hatten Margarete und Felipe mit Leichtigkeit für sie beiseite gewischt. Das letzte Argument würde nur schwer über die Lippen der Anklägerin kommen.
    Eine leichte Röte überzog das unnatürlich weiße Gesicht der Japanerin. Sie zögerte. Ihre Blicke trafen die von Melanie.
    „Ich kann mir nicht vorstellen, dass Menschen durch die Augen eines anderen sehen können“, bemerkte Georg.
    „Es darf nicht sein“, hauchte Dorothea. „So etwas darf es nicht geben.“
    Dorothea? – Dorothea Kayser?
    Mehrere Köpfe ruckten in ihre Richtung. Sie saß ganz rechts außen, in der letzten Reihe, neben Artur. Sie schien ein wenig zu zittern. Wirkte aufgewühlt. Ihre Miene war …
    Ihr Miene drückte Furcht aus, aber das dazugehörende Gesicht war … nicht da. Doch, es war da, kurzzeitig, aber es hinterließ keinen Eindruck. Alle, die sie für einen Moment betrachtet hatten, sahen nun wieder nach vorne. Ihre Blicke tropften an Dorothea ab wie Regen von einer imprägnierten Oberfläche. Sie war unsichtbar, auf ihre eigene Weise. Psychisch, nicht physisch. Man konnte sich nicht auf sie
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