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Carre, John le

Carre, John le

Titel: Carre, John le
Autoren: Smileys Leute oder Agent in eigener Sache (Smiley Bd 7)
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    Zwei
scheinbar unzusammenhängende Ereignisse gingen dem Ruf voraus, der Smiley aus
seinem dubiosen Ruhestand zurückholen sollte. Das erste hatte als Ort der
Handlung Paris und als Zeit der Handlung den kochenden Monat August, wenn die
Pariser traditionsgemäß ihre Stadt der sengenden Sonne und den Busladungen
zusammengepferchter Touristen überlassen. An einem dieser Augusttage - dem
vierten, genau gesagt, und um Schlag zwölf Uhr, wie eine Fabriksirene, gefolgt
von einer Kirchenglocke, bezeugte - tauchte in einem quartier , das
einst für seinen hohen Anteil an russischen Emigranten der ärmeren Sorte
bekannt gewesen war, eine stämmige, etwa fünfzigjährige Frau mit einer
Einkaufstasche in der Hand aus der Dunkelheit eines alten Lagerhauses auf und
ging, nach ihrer Gewohnheit, energisch und zielstrebig das Trottoir entlang
zur Bushaltestelle. Die Straße war grau und eng und verödet, mit einigen kleinen hôtels de passe und einer Menge Katzen. Aus irgendeinem Grund war die
Gegend besonders ruhig. Das Lagerhaus blieb, seiner verderblichen Waren wegen,
während der Urlaubszeit geöffnet. Die Hitze, geschwängert von Ausdünstungen,
die auch nicht der leiseste Lufthauch vertrieb, stieg wie aus einem Liftschacht
an ihr hoch, doch die slawischen Züge der Frau zeigten keinerlei Beschwer. Sie
war für Anstrengungen an einem heißen Tag weder gekleidet noch gebaut, denn sie
war so kurzbeinig und dickleibig, daß sie ein wenig rudern mußte, um vorwärts
zu kommen. Ihr schwarzes Kleid von klösterlicher Strenge wies weder eine Taille
noch irgendeinen Putz auf, wenn man von dem Käntchen weißer Spitze am Hals und
von einem großen abgegriffenen Kreuz aus vermutlich wertlosem Metall auf ihrem
Busen absah. Die rissigen Schuhe, deren Spitzen beim Gehen auswärts gerichtet
waren, erzeugten einen hallenden Trommelschlag zwischen den Häusern mit den
geschlossenen Fensterläden. Die schäbige Tasche, die seit dem frühen Morgen voll
war, gab ihrer Trägerin eine leichte Schlagseite, und man sah, daß sie an
Lasten gewöhnt war. Es ging aber auch etwas Fröhliches von ihr aus. Das graue
Haar war zu einem Knoten gefaßt, doch eine widerspenstige Stirnlocke wippte
über den Brauen im Rhythmus ihres Watschelschritts. Ein verwegener Humor
sprach aus ihren Augen. Ihr Mund über dem Boxerkinn schien bereit, beim
geringsten Anlaß zu lächeln.
    Als
sie an ihrer Bushaltestelle angekommen war, stellte sie die Tasche ab und
massierte sich mit der rechten Hand den Rücken, eine Bewegung, die sie in
letzter Zeit oft machte, obwohl sie ihr keine Erleichterung verschaffte. Der
hohe Hocker in dem Lagerhaus, wo sie jeden Vormittag als Aufsicht arbeitete,
hatte keine Lehne, und sie verspürte in zunehmendem Maß diese Unzulänglichkeit.
»Du Teufel!« apostrophierte sie den schuldigen Teil. Nachdem sie ihn gerieben
hatte, faltete sie die schwarzen Ellbogen nach hinten, wie eine alte
Stadtkrähe, die sich zum Fliegen anschickt. »Du Teufel«, wiederholte sie.
Plötzlich fühlte sie, daß sie beobachtet wurde. Sie schwenkte herum und lugte
zu dem massigen Mann hoch, der wie ein Turm vor ihr aufragte. Er war außer ihr
der einzige Mensch an der Haltestelle, ja sogar in der ganzen Straße. Sie hatte
nie mit ihm gesprochen, und doch war sein Gesicht ihr vertraut: so groß, so
weichlich, so verschwitzt. Sie hatte es gestern gesehen, sie hatte es
vorgestern gesehen und, soweit sie sich erinnern konnte - Herrgott, sie war
schließlich kein wandelndes Tagebuch! - auch vorvorgestern. Während der letzten
drei oder vier Tage war dieser schwächliche und nervöse Riese, wenn er so auf
einen Bus wartete oder vor dem Lagerhaus herumlungerte, für sie zu einer Figur
der Straßenszenerie geworden; mehr noch, er gehörte einem ganz bestimmten Typus
an, nur hatte sie ihn bis jetzt noch nicht einordnen können. Sie dachte, er
sehe traqué - gehetzt - aus, wie so viele Pariser heutzutage. Sie sah so
viel Angst in ihren Gesichtern, in der Art und Weise, wie sie grußlos
aneinander vorbeigingen. Vielleicht war es überall so, wie sollte sie das
wissen? Mehr als einmal hatte sie sein Interesse an ihr bemerkt.
Sie hatte sich sogar gefragt, ob er womöglich Polizist sei; mit dem Gedanken
gespielt, ihn zu fragen. Soviel Großstadt-Chuzpe besaß sie durchaus. Seine
düstere Erscheinung verwies auf Polizei, ebenso wie sein verschwitzter Anzug
und der nutzlose Regenmantel, der wie ein altes Uniformstück über seinem Arm
hing. Sollte sie recht haben
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