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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Amanda Knox
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Capanne waren die Schriftstücke vom Gericht bereits eingetroffen. »Zeit, zu gehen«, sagten die Wärterinnen. »Lauf schnell rauf und hol deine Sachen. JETZT. Los.«
    Allein rannte ich durch den Flur, die Treppe hinauf bis an das verschlossene Tor. Sobald ich nach der agente rief, mich einzulassen, brach der Flur in Jubelrufe aus. Frauen versammelten sich an ihren Gittern, um mich zu sehen. Sie streckten die Arme durch die Stäbe, um mich anzufassen, sich von mir zu verabschieden. Ich berührte ihre Hände – eine vorbeitrabende Marathonläuferin.
    Irina stand weinend an unserer Zellentür. Wir umarmten uns. »Pass auf dich auf«, flüsterte ich ihr zu.
    Ich nahm meine Tasche, ging zum letzten Mal aus meiner Zelle und lief zurück durch den Flur, begleitet von Rufen: »Amanda, Amanda. Libertà! Libertà! Libertà!«
    Wärterinnen brachten mich zum Zentralgebäude und gaben mir Pass und Geld zurück. Mein Passbild erkannte ich nicht. Das war mein jüngeres Ich, aufgenommen kurz vor meinem Aufbruch nach Italien, bevor das alles passierte – das Foto einer Amanda, die Seattle gar nicht schnell genug verlassen konnte, um an einen neuen Ort zu kommen, um sich als Erwachsene in einer neuen Kultur selbst zu entdecken. Sie tat mir so leid. Am liebsten hätte ich gesagt: »Du hast keine Ahnung, was dir zustoßen wird. Ich möchte dich beschützen.«
    Man händigte mir einen Plastikbeutel aus mit den Ohrringen, die das Wachpersonal konfisziert hatte, als ich nach Capanne kam. Die Löcher in meinen Ohren waren längst wieder zugewachsen.
    Rocco und Corrado hatten mich eingeholt. Alles ging so schnell. Sie umarmten mich, Tränen in den Augen, und sagten: »Wir bringen Sie raus.«
    Mein Magen schlug Purzelbäume, mein Gesicht tat weh vom vielen Lächeln. Mein Herz pochte schmerzhaft. Ich war draußen! Ich war frei! Ich war dermaßen überwältigt, dass ich nicht sprechen konnte. Die Freude schmerzte.
    Ich ging durch dieselbe Tür hinaus, durch die ich vor vier Jahren hineingegangen war. Da fiel mir plötzlich ein, dass ich den rechten Fuß abstreifen musste – das Gefängnisritual, mit dem man die Freiheit an einen anderen Inhaftierten weiterreicht. Commandante Fulvio schüttelte mir lächelnd die Hand. Häftlinge brachen in Jubel aus, schlugen Töpfe und Pfannen aneinander und winkten mit T-Shirts und Handtüchern durch die Gitterstäbe vor ihren Fenstern und riefen: »AMANDA! LIBERTÀ! E vaiiiiii! LIBERTÀ! AMANDA! VAI A CASA! LIBERTÀ!« – Freiheit! Amanda! Du gehst nach Hause!
    Ich öffnete die Tür des schwarzen Wagens, der auf mich wartete.
    Ich war frei.
    Ich war auf dem Weg nach Hause.

Epilog
    3.–4. Oktober 2011
    C orrado setzte sich auf den Rücksitz eines schwarzen Mercedes mit getönten Scheiben und Ledersitzen, während ich Rocco zum letzten Mal umarmte. Er würde bei commandante Fulvio bleiben. »Vielen Dank für alles«, sagte ich ihm. Mein Herz raste. Alles musste schnell gehen.
    »Los, los«, drängte er. »Rufen Sie mich nachher an.« Er zwinkerte mir zu. Kurz vorher hatte er mir mein erstes Geschenk in Freiheit überreicht – ein neues iPhone, noch in der Verpackung.
    Ich stieg hinten in den Wagen, beugte mich kurz vor und schüttelte dem uniformierten Fahrer die Hand, einem höflichen, stillen jungen Mann, der nicht viel älter sein konnte als ich.
    »Was passiert jetzt?«, fragte ich Corrado.
    Der Fahrer ließ den Motor an und fuhr zum Tor, während Corrado mir rasch den Plan erklärte. »Ihre Familie wartet draußen vor dem Tor. Sie fahren hinter uns her nach Rom. Ihre Mutter steigt unterwegs bei uns ein. Sobald wir in Rom angekommen sind, werden wir Sie in einem sicheren Haus absetzen, wo Sie übernachten werden. Morgen werden Sie nach Hause fliegen!«
    Auf die Szene, die sich vor dem Tor abspielte, war ich nicht vorbereitet. Der Fahrer versuchte, sich langsam einen Weg durch eine dichte Menschenmenge zu bahnen. Es war so dunkel, dass ich alles nur im Blitzlicht sehen konnte – Journalisten, die den Wagen umzingelten, Gesichter tauchten in der Dunkelheit auf. Automatisch zog ich den Kopf ein, wie ich es mir angewöhnt hatte.
    Sobald wir an der Journalistenschar vorbei waren, gab der Fahrer Gas. Wir verließen Perugia. Ich war auf dieser Ausfallstraße noch nie nach links abgebogen und hatte nur eine vage Vorstellung davon, dass wir in westliche Richtung fuhren. In der Dunkelheit konnte ich es nicht erkennen, aber ich wusste, dass wir nun an einem Hügel vorbeifuhren. Oben auf der Kuppe stand ein

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