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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Autoren: Amanda Knox
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Messelieder an, die uns beiden gefielen. Dann zogen wir das Keyboard hervor, und ich übte das Lied, das ich gerade gelernt hatte – Maybe Not von Cat Power: There’s a dream that I can see, I pray it can be .
    Don Saulo zog einen kleinen Recorder aus der Tasche. »Nur für den Fall, dass ich Sie lange Zeit nicht mehr singen höre«, sagte er lächelnd.
    Ich sang das Lied noch einmal. Nachdem Don Saulo mich beruhigt hatte, war meine Stimme fester. Dann setzten wir uns an den Tisch und unterhielten uns. Wie so oft hielt er meine Hände – und wie immer war es mir ein Trost.
    Don Saulos Eltern hatten ihn ins Priesterseminar geschickt, als er elf war. Er war die meiste Zeit seines Lebens auf sich allein gestellt gewesen.
    »Sind Sie einsam?«, fragte ich.
    Diese Frage stellte ich ihm nicht zum ersten Mal, aber er war ihr immer ausgewichen.
    Diesmal antwortete er. »Ja. Aber ich habe Gott. Es ist ein erfüllendes Dasein, aber auch ein einsames. Wenn man sich zum Ziel gesetzt hat, der Menschheit zu dienen, gibt einem die Menschheit dafür nicht immer etwas zurück. Im seminario wird man mehr oder weniger darauf vorbereitet, dass alles sehr formal abläuft, damit man sich nicht zu sehr an Menschen bindet. Man darf keine speziellen Freunde haben.«
    »Das finde ich traurig, aber irgendwie haben Sie sich als ein sehr starker, fürsorglicher Mensch erwiesen.«
    Nach kurzem Schweigen sagte ich: »Ich habe solche Angst.«
    Das war ihm nicht neu.
    »Aber ich bin auf alles vorbereitet, was auch passiert. Ich habe Listen aufgestellt. Ich habe Mom geschrieben. Ich lasse mich hiervon nicht zerstören.«
    »Ich werde für Sie beten«, sagte er und drückte meine Hände. Seine Wangen waren nass. »Ich bete dafür, dass Sie nach Hause kommen, Amanda. Ich hoffe, ich werde Sie nie wieder im Gefängnis sehen.«
    »Wenn ich freikomme, werde ich Sie wirklich vermissen.«
    Um das sagen zu können, hatte ich mir einen kleinen Hoffnungsschimmer erlaubt.
    Don Saulo schenkte mir etwas zum Abschied: eine kleine, silberne fliegende Taube an einer dünnen Kette. »Die Taube stellt für meine Kirche den Heiligen Geist dar, Spirito Santo, und sie steht auch für Freiheit«, erklärte er.
    Gegen vier Uhr nachmittags wurde es Zeit für Don Saulo, zu gehen. Er nahm mich lange in den Arm. »Ich habe Sie lieb wie ein Großvater«, sagte er und drückte mich an sich.
    »Ich habe Sie auch lieb, Don Saulo.«
    Als ich mich nach oben in meine Zelle begab, teilte mir eine Wärterin mit, dass Rocco und Corrado auf mich warteten. Wir machten einen Umweg über den Vorraum zum Frauentrakt, wo sich commandante Fulvio, der Gefängnisdirektor, fröhlich mit ihnen unterhielt. Sie lächelten beide. »Wo waren Sie?«, rief Rocco hänselnd.
    »Wie geht es Ihnen?«, fragte Corrado und führte mich in ein leeres Büro.
    »Ich bin ziemlich nervös«, antwortete ich.
    »Wir können Ihre Nervosität verstehen«, sagte Corrado, »aber alles hat sich inzwischen verändert.«
    »Wir haben dafür gesorgt, dass ein Wagen Sie nach Ihrem Urteilsspruch vom Gefängnis abholt«, sagte Rocco. »Damit Sie nicht von Journalisten bedrängt werden.«
    »Wir beide werden Sie nach Rom bringen«, ergänzte Corrado. »Wir haben es mit Ihren Eltern abgesprochen und klären gerade die letzten Einzelheiten mit Fulvio ab.«
    Ihre Pläne erschienen mir übertrieben zuversichtlich.
    »Es gibt nichts, wovor Sie Angst haben müssen, Amanda«, sagte Corrado und drückte mir fest die Hand.
    Als ich wieder in meiner Zelle war, schaute ich mit Irina fern. Jeder Sender zeigte eine zunehmende Menschenmenge und Scharen von Journalisten vor dem Gerichtsgebäude, die darauf warteten, zur Urteilsverkündung eingelassen zu werden. Die Reporter fassten die letzten vier Jahre zusammen. Erfreulich war, von ihnen zu hören, dass die Berufungsinstanz sich darauf verlegt habe, der Verteidigung den Vorzug zu geben, nachdem unabhängige Experten die klaffenden Lücken in der Hauptbeweisführung offengelegt hatten. Manche waren der Meinung, wir würden gewinnen. Andere nicht. Als Letztere zu Wort kamen, wechselte ich den Sender.
    Ich rief mir ins Gedächtnis, dass sie alle eigentlich gar nichts wussten. Schließlich berichteten sie, meine Familie habe für den Fall meiner Freilassung einen Privatjet gemietet, um mit mir nach Hause zu fliegen. Dieses Gerücht hätten sie nicht erwähnt, wenn sie gewusst hätten, dass meine Eltern am Ende ihrer finanziellen Möglichkeiten standen.
    Gegen 20.30 Uhr kam die Wärterin, um
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