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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Autoren: Amanda Knox
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– nicht mal ein Prozent der Zeit. Trotzdem brauchte ich sie dringend, ob es nun gut oder schlecht ausging. Wenn man mir ein für alle Mal mein Leben nehmen würde, wären sie das einzig Gute, was ich hatte. Sollte ich freigesprochen und entlassen werden, waren sie mein Zuhause, wohin ich zurückkehren würde. Die Entscheidung würde uns alle betreffen.
    An meinem Handgelenk trug ich einen selbstgehäkelten Stern. Ich legte ihn zu jeder Anhörung an – nicht als Talisman, sondern als persönliches Symbol. Den Stern und viele ähnliche für meine Familie hatte ich zu Beginn meiner Haftstrafe angefertigt. Der einst blütenweiße Faden war im Lauf der Jahre verschmutzt. Dieser Stern war mein bescheidener Versuch, aus dem wenigen, das mir zur Verfügung stand, etwas Neues, Schönes zu schaffen.
    Richter Hellmann und sein Beisitzer Zanetti waren da, nebst den sechs Schöffen mit ihren Schärpen in den Farben der italienischen Nationalflagge. Die Kerchers würden erst später zur Urteilsverkündung erscheinen.
    Raffaele sprach zuerst; er zog sein Silikon-Armband ab, auf dem Libera Amanda e Raffaele stand – »Lasst Amanda und Raffaele frei«. Es war ein Unterstützer-Armband, das meine Familie hatte anfertigen lassen. Er sagte, er habe es seit unserer Verurteilung getragen. Er hielt es hoch – eine Gabe ans Gericht – in der Hoffnung, dass er es nie wieder brauchen würde.
    »Ich habe noch nie jemandem etwas angetan«, sagte er. »Nie im Leben.«
    Dann war ich an der Reihe. Ich zitterte so stark, dass der Richter fragte, ob ich mich setzen wollte. Ich hatte seit Tagen weder gegessen noch geschlafen, und mir kamen die Tränen, sobald ich anfing zu sprechen. Ich rang mit den Händen und flehte um mein Leben.
»Oft wurde gesagt, ich sei anders, als ich aussehe. Dass man aus meiner Person nicht schlau werde. Ich bin dieselbe wie vor vier Jahren. So war ich schon immer.
Das, was ich in den vier Jahren erlitten habe, macht den Unterschied. Ich habe auf brutalste, absolut unerklärliche Weise eine Freundin verloren. Mein Vertrauen in die Polizei wurde erschüttert. Ich wurde mit vollkommen ungerechten Beschuldigungen konfrontiert, und ich bezahle mit meinem Leben für etwas, was ich nicht getan habe.
Vor vier Jahren war ich vier Jahre jünger, aber im Grunde war ich noch jünger, denn ich hatte nie Leid erfahren … Ich wusste nicht, was eine Tragödie war. So etwas sah ich höchstens im Fernsehen. Das hatte nichts mit mir zu tun …
Ich bin nicht so, wie ich dargestellt werde. Die Perversion, die Gewalt, die Lebensverachtung – das bin nicht ich. Und ich habe nicht getan, wessen man mich beschuldigt. Ich habe nicht getötet. Ich habe nicht vergewaltigt. Ich habe nicht gestohlen. Ich war nicht dort. Ich war bei diesem Verbrechen nicht zugegen …
Ich möchte nach Hause. Ich möchte wieder zurück in mein Leben. Ich möchte nicht bestraft werden, meines Lebens und meiner Zukunft beraubt werden, für etwas, was ich nicht getan habe. Weil ich unschuldig bin. Raffaele ist unschuldig. Uns steht die Freiheit zu. Wir haben nichts getan, weswegen wir sie nicht verdient hätten.
Ich habe großen Respekt vor diesem Gericht für die Fürsorge, die man uns während unseres Verfahrens gezeigt hat. Daher danke ich Ihnen.«
    Ich setzte mich und schluchzte leise. Noch nie hatte ich mich so klein und unbedeutend gefühlt. Ich war auf die Gnade eines Gerichts angewiesen, das mir vier entsetzliche Jahre lang keine Gnade erwiesen hatte.
    Bevor der Richter die Verhandlung vertagte, warnte er das Gericht: »Hier handelt es sich nicht um ein Fußballspiel, ein schreckliches Verbrechen wurde verübt … jetzt steht das Leben von zwei jungen Menschen auf dem Spiel …« Wenn das Urteil verkündet werde, wolle er keine tifoseria – keine Randale wie im Stadion, sagte er. Dann zogen sich Richter und Schöffen zurück, und ich wurde aus dem Gerichtssaal geführt.
    Bevor man mich in die Garage brachte, um mich wieder im Gefangenentransporter einzuschließen, durfte ich meine Familie im hinteren Flur umarmen. Auch Raffaele war dort mit seiner Familie. Ich fragte ihn, ob er nervös sei. »Nein«, antwortete er. Aber das klang ziemlich verzagt.
    Als ich wieder nach Capanne kam, begrüßte mich Don Saulo am Eingang zum Frauentrakt. »Ich habe heute alles abgesagt, um Ihnen beizustehen«, sagte er und nahm meine Hand. »Mein Büro steht Ihnen zur Verfügung.«
    »Lassen Sie uns jetzt dorthin gehen«, bat ich ihn. Ich klimperte auf der Gitarre und stimmte
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