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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Autoren: Amanda Knox
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mich zu holen. Auf dem Weg zum Gericht zitterte ich die ganze Zeit. Jede Wendung des Gefangenentransporters strapazierte meine Nerven nur noch mehr. Der Käfig, in dem ich eingesperrt war, kam mir wie ein Backofen vor. Ich hörte, wie Raffaele auf der anderen Seite der dicken Trennwand rumorte. Zweimal fragte er mich, ob mit mir alles in Ordnung sei.
    »Ja«, antwortete ich mit schwacher Stimme. Meine Brust tat weh. Ich zitterte unkontrolliert, als hätte ich über vierzig Grad Fieber. Ich versuchte, tief durchzuatmen. Es funktionierte nicht.
    Die Wärterin, die mich am Arm hielt, war eine große, stämmige Blondine, die hellblauen Lidschatten aufgelegt hatte – farblich passend zu ihrer Uniform. Ich wimmerte wie ein Kind, als wir die Treppe hinaufgingen. »Schh, schhh«, sagte sie. »Ist schon gut.«
    Ashley und Delaney standen an der Tür zum Gerichtssaal, genau wie am Ende des ersten Verfahrens. Das Wachpersonal zerrte mich förmlich in den Saal; ich war nicht bereit, mich der Entscheidung zu stellen.
    Der Gerichtssaal mutete wie ein zum Schweigen gebrachter Karneval an – ein elektrisches, unnatürliches Schweigen, das sehr viele unterschiedliche Körper ausstrahlten. Die Journalisten durften die Urteilsverkündung filmen, daher waren Fernsehkameras aufgebaut worden. Blitzlichter flackerten. Manche Journalisten hatten sich auf hohe, eigens für diesen Anlass errichtete Podien gehievt, um einen besseren Überblick zu haben.
    Merediths Familie sah ich nicht hereinkommen. Meine Familie stand wachsam an der Absperrung, die für gewöhnlich die Journalisten vom übrigen Gerichtssaal trennt. Sie lächelten mir zu, aber ich sah ihnen die Anspannung an. Ich versuchte, ihr Lächeln zu erwidern, doch mein Gesicht war erstarrt. Ich wurde zwischen meine Anwälte geschoben, die ihre Arme um mich legten, um mich zu beruhigen. »Ist Ihnen kalt?«, fragte Luciano. Er rieb mir die Schultern und zog mich an sich.
    Ich wollte nicht, dass der Richter und die Schöffen in den Saal kamen. Ich wollte ihre Worte nicht hören. Zu groß war meine Angst, dass sie mich verurteilen würden.
    Die Gerichtsdienerin verkündete: »La corte!«, und das Gericht begab sich an die Plätze. Die Schöffen schauten ausdruckslos geradeaus. Richter Hellmann las laut vor. Er begann mit dem Buchstaben F, der Anklage wegen Verleumdung. Ich wurde schuldig gesprochen, und meine Strafe wurde von einem auf drei Jahre Gefängnis erhöht – die Zeit hatte ich bereits abgesessen.
    Ich versuchte, die schreckliche, wiederaufflammende Angst zu unterdrücken, in allen Anklagepunkten schuldig gesprochen zu werden. Immer wieder musste ich mir sagen, dass ich der Verleumdung, nicht des Mordes überführt werden konnte, und kämpfte mit Mühe gegen das Gefühl des Ertrinkens an, bis ich wusste, was kam. Die Leute hinter mir begannen zu murmeln, was meine Nerven noch mehr anspannte.
    »In den Anklagepunkten A, B, C, D und E«, fuhr Richter Hellmann fort, »werden die Beschuldigten freigesprochen, da sie die Taten nicht begangen haben.« – »La corte assolve gli imputati per non aver commessi i fatti.«
    Vier Jahre lang hatte ich mich bemüht, an die Wasseroberfläche zu kommen, nicht zu ertrinken. Jener erste Atemzug an der Luft war tief, schwer, plötzlich und schmerzhaft. Aber es war ein Atemzug. Es war Leben. Freiheit.
    Die Menge jubelte. Manche buhten.
    In den Sekunden bevor die Wärterinnen mich eilig aus dem Gerichtssaal führten, nahmen mich Carlo, Luciano und Maria in den Arm. Dann war ich mit einem Schritt draußen, ging die Treppe hinunter, weinte, angetrieben von den Wärterinnen, die meine Schritte lenkten.
    Als ich am Fuß der Treppe immer noch weinte, ergriff Raffaele meine Hand und sagte: »Aber Amanda! Alles ist gut! Wir gehen nach Hause!«
    Ein Wärter zwinkerte mir zu. »Gut gemacht, Kleine«, sagte er. »Die Wette hab ich gewonnen!«
    Kurz bevor man uns hinausführte, umarmte ich Raffaele. »Ich werde dich in Seattle besuchen«, versicherte er mir.
    Die Wärterinnen halfen mir auf den Rücksitz eines normalen Polizeiwagens. Ich schnallte mich an und schaute aus den Fenstern auf die Bäume und Autos entlang der Straße. Es war dunkel, aber ich wollte alles sehen – einfach nur sehen –, weil es möglich war. Wir rasten mit heulenden Sirenen durch Perugia aufs Land hinaus – genauso wie damals, als ich zum ersten Mal ins Gefängnis gebracht wurde. Diesmal hatte ich den Kopf nicht zwischen den Knien. Diesmal lächelten mir die Wärterinnen zu.
    In
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