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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Autoren: Amanda Knox
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Bauernhof, den ich in den vergangenen vier Jahren von meinem Fenster aus gesehen hatte.
    Wir rasten auf den gewundenen Landstraßen, als wäre es eine rasante Verfolgungsjagd. Ich schaute aus dem Heckfenster und sah einige Autos hinter uns. Es war tatsächlich eine Verfolgungsjagd. Paparazzi waren hinter uns her. »Sie sagten, wir würden Mom unterwegs aufgabeln?«, fragte ich Corrado ungläubig. Wie konnten wir irgendwohin fahren, ohne umzingelt zu werden?
    »Ihre Mutter sollte in dem Wagen direkt hinter uns sein«, erklärte Corrado. »Unser Fahrer wird versuchen, die Journalisten abzuwimmeln und eine ruhige Stelle zu finden. Dann kann der Wagen neben uns anhalten, und Ihre Mutter kommt zu uns.«
    Erneut schaute ich zurück und sah die Scheinwerfer des Wagens dicht hinter uns, an der Spitze der Schlange.
    »Die sind dicht auf«, sagte der Fahrer. Er schaltete die Scheinwerfer aus, damit die Journalisten uns nicht mehr so gut sahen; dann bogen wir plötzlich ab und fuhren im Dunkeln auf Seitenstraßen kreuz und quer. Aus dem Fenster konnte ich nichts erkennen. Wir mussten dieses Manöver ein paarmal ausführen, bevor wir einen ruhigen, einsamen Kiesfleck fanden und der Wagen, der uns auf den Fersen gewesen war, ebenfalls mit ausgeschalteten Scheinwerfern, knirschend neben uns zum Halten kam.
    Mein Herz raste, als ich die Tür öffnete und meine Mutter sich auf den Sitz neben mich fallen ließ, sodass ich zwischen ihr und Corrado saß. Sie war erschöpft, doch es dauerte nur den Bruchteil einer Sekunde, bis sie in Tränen ausbrach und mich in die Arme schloss. Unterdessen huschte eine weitere Gestalt auf den Beifahrersitz vorn, und kaum waren alle Türen zu, fuhren wir weiter. Kies wirbelte hinter uns auf. Der Wagen, aus dem meine Mutter ausgestiegen war, raste ebenfalls los.
    »Meine Kleine! Meine Kleine!«, sprudelte es aus meiner Mutter hervor, und sie tastete meinen Kopf und meine Schultern ab. Ich vergrub das Gesicht an ihrem Hals, konnte kaum glauben, dass sie da war, dass sie mit mir in einem Auto saß, dass wir in der Dunkelheit in Richtung Rom sausten. Der Fahrer schaltete die Scheinwerfer ein; schon bald wurden wir wieder von Journalisten entdeckt, die uns verfolgten. Am Steuer des Wagens, in dem meine Mutter gesessen hatte, war Chris, der inzwischen auf der ohnehin schmalen Straße hinter uns im Zickzack fuhr, um die Journalisten davon abzuhalten, ihn zu überholen und in unsere Nähe zu gelangen. Einmal wurde der Wagen sogar von hinten gerammt, erzählte Chris mir später.
    Der Mann auf dem Beifahrersitz besprach seine Strategie mit dem Fahrer und drehte sich dann zu uns um. »Hi, mein Name ist Steve Moore.« Er schüttelte mir die Hand und lächelte. »Für Förmlichkeiten ist nachher noch Zeit.« Er wandte sich wieder nach vorn und behielt die Straße im Auge, als wir uns schließlich auf der Autobahn einfädelten. Er muss ungefähr im Alter meiner Mutter gewesen sein und hatte die Statur eines ehemaligen Baseballspielers – kräftig, muskulös. Er war ein pensionierter FBI-Agent, der mich ursprünglich für schuldig gehalten hatte, bis er sich auf Drängen seiner Frau den Fall genauer angesehen hatte. Schließlich wurde er ein Befürworter meiner Verteidigung in den USA und schrieb im Internet aus der Perspektive eines professionellen Ermittlers über die Beweisführung in meinem Fall, wobei er die Behauptungen der Staatsanwaltschaft kritisierte und widerlegte. Er hatte mir ins Gefängnis geschrieben; ich hatte ihm sogar geantwortet und ihm Namen für das neue Schweinchen seiner Tochter vorgeschlagen – mein Lieblingsname, auch wenn es auf der Hand lag, war unweigerlich Hamlet.
    Nachdem meine Mutter und ich uns aus unserer Umarmung gelöst hatten, hielten wir uns fest an den Händen, als ginge es um Leben und Tod. Ich konnte noch immer nicht glauben, dass ich mit ihr in einem Wagen saß. Seit Jahren hatte ich sie nur im Besuchsraum des Gefängnisses und im Gericht gesehen. Die Szene kam mir beinahe unwirklich vor – eher wie eine rotierende, zweidimensionale Kulisse auf einer Bühne.
    Ich war nicht mehr daran gewöhnt, in wechselnden Umgebungen zu sein. Rückblickend glaube ich sogar, dass meine Erinnerungen an die vier Jahre im Gefängnis so deutlich sind, weil sich der Hintergrund nie veränderte. Immer waren es derselbe hallende Flur, dieselben getünchten Zellen, derselbe trostlose Hof, derselbe fensterlose Innenraum des Gefangenentransporters, derselbe helle, überfüllte Gerichtssaal. All das
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