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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Autoren: Amanda Knox
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fügte sich zu dem unbeschriebenen Stück Papier zusammen, auf dem charakterliche Veränderungen und Gefühlsschwankungen schonungsloser aufgedeckt wurden.
    Dieses absolut Neue – eine vorbeiziehende Landschaft, ein Auto mit Fenstern, meine Mutter, meine Freiheit – war über alle Maßen anregend und belebend. Vor aufgestauter Erregung hibbelte ich auf meinem Sitz auf und ab. Seit Jahren hatte ich nicht mehr so viel Energie verspürt – jedenfalls nicht im Gefängnis, wo ich so oft vor lauter Traurigkeit und innerer Leere, die ich mühsam selbst zu füllen versuchte, in Lethargie verfallen war.
    Ich wollte wissen, wie es meiner Familie ging, wie alle reagiert hatten, wo alle waren und ob wir sie bald treffen könnten. Meine Mutter erzählte mir, immer noch weinend, nach der Urteilsverkündung seien alle in Tränen ausgebrochen und hätten sich umarmt. »Natürlich war es das reinste Chaos, da rauszukommen. Die Journalisten drehten durch und stießen sich gegenseitig beiseite, um an Interviews heranzukommen. Deine Schwester hat vor dem Gerichtsgebäude eine schöne Stellungnahme abgegeben. Du wärst so stolz auf sie.«
    Ich war stolz auf sie. Die Vorstellung, sich vor so viele andere hinzustellen und genau das Richtige zu sagen – das in Worte zu kleiden, was man wirklich meinte –, konnte beängstigend sein, das wusste ich nur zu gut. Während meiner Haftzeit war Deanna wirklich von einem schmollenden Teenager zu einer selbstsicheren jungen Frau herangewachsen.
    »Möchtest du sie anrufen?«, fragte meine Mutter und hielt mir aufgeregt ihren Blackberry hin.
    Ich zögerte keine Sekunde, fummelte jedoch daran herum und konnte ihn nicht bedienen. Ich wusste nicht, wie man die Kontakte herstellt.
    »Es ist ein Touchscreen, Schätzchen.« Meine Mutter lachte und blätterte auf dem Bildschirm. Seit Jahren hatte ich kein Handy benutzt, schon gar nicht eins mit Touchscreen. Das Gerät war wie Science-Fiction für mich. Viel verblüffender fand ich es jedoch, dass man einfach so selbstverständlich telefonieren konnte. Im Gefängnis hatte ich eine Woche im Voraus den Antrag stellen müssen, damit ich zur angegebenen Zeit in die Telefonzelle durfte; ich hatte auf den mithörenden Gefängnisbediensteten warten müssen, um zu telefonieren und in den zehn Minuten, bevor dieser Aufseher die Verbindung wieder unterbrach, so viel wie möglich zu sagen. Ich erkannte die Namen auf der Kontaktliste, die meine Mutter durchblätterte. Sie alle könnte ich anrufen und mit ihnen sprechen, solange ich wollte.
    »Wen möchtest du zuerst anrufen?«, fragte sie mich.
    Am Ende telefonierte ich während der restlichen Fahrt nach Rom mit Angehörigen und Freunden sowohl zu Hause als auch in Italien. Als wir die Autobahnabfahrt nach Rom erreichten, hatten die Paparazzi längst unsere Fährte verloren. Ich schaute aus den Fenstern, um die Stadt in der Dunkelheit zu erkennen, doch mein Blick fiel ständig auf meine Mutter, die noch immer meine Hand umfasste und meine Wangen berührte. Wir fuhren durch die Straßen und hielten schließlich vor einem alten Reihenhaus.
    Steve stieg aus und überprüfte die leere Straße, bevor er uns ein Zeichen gab, ihm zu folgen. Unterdessen luden Corrado und der Fahrer unsere Taschen aus. »Wir kommen morgen wieder und bringen Sie zum Flughafen.« Corrado lächelte.
    »Vielen Dank für alles«, sagte ich und umarmte ihn.
    »Das soll wohl ein Witz sein? Ich war schon seit langem nicht mehr so aufgeregt.«
    Steve führte meine Mutter und mich in das Reihenhaus, in dem uns der Gastgeber – ein ruhiger, älterer Mann – mehr mit Gesten, denn mit Worten begrüßte. Er zwickte in meine Wangen und brachte uns die Treppe hinauf in seine enge Wohnung – meine Mutter und ich würden in einem ausklappbaren Bett im Arbeitszimmer schlafen, Steve auf einer Liege in der Küche.
    Wir stellten unsere Taschen ab, und dann ging ich mit meiner Mutter ins Bad. Ich hatte die Zahnbürste bei mir, die ich im Gefängnis verwendet hatte, doch dann fiel mir ein, dass meine Mitinsassinnen mir gesagt hatten, ich müsse sie unbedingt durchbrechen, um meine letzten Verbindungen mit dem Gefängnis aufzulösen und mir noch einmal zu versichern, dass ich nicht zurückkehren würde.
    »Hast du eine Ersatzzahnbürste dabei?«, fragte ich meine Mutter.
    »Klar. Ich hol sie eben.«
    Als sie hinausgegangen war, verdrehte ich die Zahnbürste, und es gelang mir, den Griff zu biegen. Das musste reichen. Ich warf sie in den Abfalleimer. Gleich darauf
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