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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Autoren: Amanda Knox
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die Lehne zwischen unseren Sitzen an. Schon bald schlief sie ein, während ich nicht einmal dösen konnte – so sehr stand ich unter Strom. Lange versuchte ich zu rekapitulieren, was seit meiner Freilassung geschehen war. Alles war anders – ganz anders als im Gefängnis. Jahrelang hatte ich durch das vergitterte Fenster dieselbe Landschaft gesehen; jetzt konnte ich die Sonnenblende hochschieben und die Wolken unter uns betrachten. Die Flugbegleiter lächelten und waren rücksichtsvoll. Ich beobachtete Deanna im Schlaf – unbeholfen eingerollt, selbst in der geräumigen Business Class.
    Ich schaute mir das Filmangebot an und stieß auf eine Nachrichtensendung über meinen Fall. Mein ganzer Körper begann zu prickeln, und mich überkamen Taubheitsgefühle. Es war eine britische Sendung, und mir wurde plötzlich der mediale Stellenwert klar; so viele Menschen wussten, was geschehen war, und hatten den Prozess verfolgt. Ich sah mich, wie ich nach meinem Freispruch aus dem Gerichtssaal geführt wurde, und sofort schnürte sich meine Brust zu. Ich nahm die Kopfhörer ab und schaltete den Sender aus; das Atmen fiel mir schwer.
    Etwa eine Stunde vor der planmäßigen Landung kam Chris aus der Economy Class, um den Platz mit Deanna zu tauschen. Er brachte kleine Notizen von einigen Journalisten mit, denen es offenbar doch gelungen war, an Bord der Maschine zu gelangen. »Das sind ja wirklich ermutigende Botschaften«, meinte meine Mutter, nachdem wir sie gemeinsam gelesen hatten. Alle beglückwünschten mich im Wesentlichen, und alle baten um ein Interview.
    Im Landeanflug beschleunigte der Anblick von Seattle erneut meinen Herzschlag. Ich drückte mir die Nase am Fenster platt und konnte kaum glauben, wie vertraut mir alles erschien – derart vertraut, dass ich kurz das Gefühl hatte, doch nicht so lange fort gewesen zu sein. Fast hätte ich Zweifel haben können, dass mein Leben unwiderruflich eine Wendung genommen hatte.
    Nachdem das Flugzeug gelandet war und am Terminal angedockt hatte, setzte die verrückte Hektik im neuen Hier und Jetzt wieder ein. Als ich aus der Flugzeugtür trat, schlug mir sogleich der altbekannte Geruch entgegen – die feuchte Erdigkeit von Seattle, besonders im Herbst. Dieser Geruch war so ganz anders als der von Perugia. Ich atmete tief ein. Jetzt war ich wirklich zu Hause.
    Wir durften das Flugzeug als Erste verlassen und gingen hinunter auf die Rollbahn, wo zwei große schwarze Vans auf uns warteten. Sie fuhren uns zu einem gesonderten Bereich, in dem uns Polizeibeamte in Empfang nahmen. Mein Herz verkrampfte sich unangenehm, aber sie lächelten. Sie waren eigens zu unseren Diensten da, um uns Geleitschutz zu bieten.
    Zum ersten Mal begegnete ich David Marriott und Ted Simon. Aufgrund der Beschreibungen, die meine Familie mir geliefert hatte, erkannte ich sie sofort.
    David Marriott sah aus wie der Weihnachtsmann. Lächelnd schlang er die Arme um mich und zog mich an seinen Bauch. Seine Stimme war fröhlich. »Wie schön, Sie endlich kennenzulernen!«, jubelte er. Ted Simon wirkte wie ein elegant gekleideter, schlauer Fuchs. Er hatte dichtes, lockiges graues Haar und trug beeindruckende schwarze Cowboystiefel zu seinem gutsitzenden Anzug. Auch wir umarmten uns, und er sprach energisch. »Es ist mir eine Ehre! Wie geht’s Ihnen? Alles okay? Es ist großartig!«
    David und Ted erklärten, außerhalb des Foyers erwarte uns eine Pressekonferenz. Ted und meine Eltern würden ein paar Worte sagen und Fragen entgegennehmen. »Und wenn Sie meinen, es zu schaffen, können Sie der Presse auch ein paar Häppchen zum Verdauen geben. Dann sind die vielleicht eher bereit, Sie eine Weile in Ruhe zu lassen«, sagte er. »Sollen wir es so machen?«
    Diese Vorgehensweise erschien mir richtig. Dann traten wir durch die Türen auf das Podium vor die vielen Kameras. Meine Haftstrafe und die Freilassung waren nie eine Privatangelegenheit gewesen. Ich sammelte mich und hatte das Gefühl, alles durchziehen zu können, ohne zu ersticken.
    Ich hatte damit gerechnet, vor denselben unpersönlichen Kameras zu stehen, vor denen ich im Gerichtssaal zurückgeschreckt war. Stattdessen wurde ich mit Jubel empfangen. Die offen gezeigte Unterstützung warf mich um. Ich sagte, was mir gerade in den Sinn kam, legte Pausen ein, um mir die nächsten Worte zu überlegen.
»Meine Familie ermahnt mich, Englisch zu sprechen, weil ich damit Probleme habe. Im Moment bin ich wirklich überwältigt. Ich habe aus dem Flugzeug
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