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Ich greife an

Ich greife an

Titel: Ich greife an
Autoren: Iwan Koshedub
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IM HEIMATDORF
ZU HAUSE
    In unserem Hofe wuchsen zwei junge Pappeln, die mein Vater eingepflanzt hatte. Ich erinnere mich, daß ich sie schon als fünfjähriger Knirps erkletterte, um Umschau zu halten. Aus der Vogelperspektive sah ich das Dach unseres Häuschens und die breite, gewundene Straße mit den Gräben zu beiden Seiten, die im Frühling das Bett schäumender Wasserströme bildeten und mit Holzstegen überbrückt werden mußten. Am Dorfrand befanden sich zwei kleine, von Riedgras umstandene Seen. Ein Knüppeldamm, der von Weiden eingesäumt war, führte an einem Birkenhain vorbei. In der Ferne erstreckten sich bis zum Rand der großen Fichtenwälder die Felder, und im Norden zogen sich überschwemmte Wiesen bis zur Desna. Eine flache Hügelkette schützte das Dorf vor den im Frühjahr über die Ufer tretenden Wassern. Schier unendlich dehnte sich das Land!
    Unser Dorf Obrashejewka liegt im äußersten Norden der Ukraine zwischen russischen Dörfern. Man spricht bei uns ein Gemisch aus Russisch und Ukrainisch. Auch meine Eltern bedienten sich häufig der russischen Sprache.
    Zwei Wegstunden von Obrashejewka entfernt liegt Krupez, das Heimatdorf meiner Mutter. Vater und Mutter waren sich hier zufällig begegnet und hatten sich verliebt. Großvater jedoch wollte die Tochter nach seinem Gutdünken verheiraten und jagte meinen Vater davon, als er freien kam. Meine Eltern heirateten heimlich.
    Der Vater war untersetzt und breitschultrig. Seine schwieligen Fäuste erschienen mir riesengroß, und ich war überzeugt, daß er stärker sei als alle anderen. Seine hellgrauen Augen blickten gewöhnlich gutmütig, war er aber zornig, so waren sie durchdringend.
    Er war wortkarg, innerlich aber weich und mitfühlend und trachtete, den Menschen zu helfen. Dies begriff ich erst, als ich größer geworden war.
    In seiner Kindheit hatte er lernen wollen, war aber nie dazu gekommen, weil es keine Schule gab. Schreiben und lesen hatte er als Autodidakt erlernt.
    Vater las gern. Offenbar lernte auch ich aus diesem Grunde schon sehr früh lesen und schreiben.
    Meine Mutter hatte ein schmales, abgehärmtes, gütiges Gesicht. Sie hörte schlecht, und wenn sie weinend darüber klagte, tat sie mir so leid, daß ich selbst zu weinen begann und immer hinter ihr herging.
    Gewandt und flink, war sie ständig in Bewegung. Sie wusch, räumte auf oder kochte. Bisweilen ließ sie jedoch alles stehen und liegen, sank auf die Ofenbank und stöhnte: „Oh, Iwan, diese Schmerzen..."
    Durch ihr Stöhnen fühlte ich mich dann selbst ganz krank. Mich verlangte es, hinauszulaufen, aber die Sorge um die Mutter hielt mich zurück. Ich wich keinen Schritt von ihr, gab ihr zu trinken und rückte das Kissen zurecht.
    Vater stand daneben. Er ließ hilflos die Arme hängen und seufzte schwer.
    Die Mutter hatte sich schon als Kind überanstrengt. Sie hatte Arbeiten verrichten müssen, die über ihre Kräfte gingen.
    Meine Eltern lebten in sehr ärmlichen Verhältnissen. Vater war bis zur Großen Sozialistischen Oktoberrevolution Fabrikarbeiter. Als der erste Weltkrieg begann, erkrankte er an Typhus und war lange Zeit ans Bett gefesselt.
    Nach der Revolution erhielten meine Eltern eine Bodenparzelle und ein Pferd. Aber Vater war bereits nicht mehr in der Lage, die Wirtschaft zu entwickeln, da seine Gesundheit untergraben war.
    Einmal fiel er bei der Heuernte von einem Schober. Seitdem bereitete ihm das Gehen Mühe, er lahmte etwas und kränkelte immer häufiger.
    Ich wurde im Jahre 1920 geboren und war der Jüngste der Familie. Von Gestalt war ich nicht groß, dafür aber sehr kräftig. Ich kann mich nicht erinnern, jemals gekränkelt zu haben. Mutter glaubte jedoch, daß ich einmal krank werden könnte, und während sie den anderen Kindern gegenüber mit Zärtlichkeiten geizte, verwöhnte sie mich geradezu. Oft meinte Vater zornig, daß sie mich verzärtele.
    „Er ist doch mein Jüngster", rechtfertigte Mutter sich dann.
    Mit ihr sind die schönsten Erinnerungen an meine Kindheit verbunden - auch solch ein „Ereignis" wie meine erste Fahrt in die Stadt.
    Vater und Mutter schickten sich an, den Jahrmarkt in Schostka zu besuchen. Ich bat, mich mitzunehmen. Doch Vater war dagegen. Ich brach in Tränen aus. Mutter trat natürlich für mich ein. Sie überredete Vater, und er setzte mich unwillig auf den Wagen.
    Da war die Stadt! Zwei- und dreistöckige Häuser, bunte Aushängeschilder - meine Blicke eilten hin und her. Während die Eltern über den Markt gingen,
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