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Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Zeit, gehört zu werden (German Edition)

Titel: Zeit, gehört zu werden (German Edition)
Autoren: Amanda Knox
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    Am schwersten fiel mir die Liste im Fall von »lebenslänglich«. Sie unterschied sich in drei Punkten von der vorhergehenden:

1. Nicht mehr nach Hause schreiben
2. Familie und Freunde bitten, mich zu vergessen?
3. Selbstmord?
    Die Berufungsverhandlung war so gut gelaufen. Wenn ich verlor, wäre das umso schlimmer. Ich hatte Angst, in einem klaustrophobischen Anfall Atemnot zu bekommen. Und ich fragte mich, ob ich je wieder glücklich sein könnte.
    Die Berufung war meine letzte Chance. Bei einer Bestätigung des Urteils würde mich das Kassationsgericht bestimmt nicht freisprechen.
    Mir war klar, dass der ständige Optimismus meiner Mutter nur ihre wirklichen Gefühle verschleierte. Sie würde meine Verurteilung noch mehr treffen als mich. Als ich mir vorstellte, wie sie ohne mich nach Hause fuhr, am Boden zerstört, hatte ich das Gefühl, sie irgendwie trösten zu müssen, auch wenn ich nicht bei ihr sein konnte.
    Also schrieb ich ihr einen Brief und schickte ihn wenige Tage vor der Urteilsverkündung ab.
Meine geliebte Mom,
ich liebe Dich. Ich schreibe Dir diesen Brief für den Fall, dass Du ohne mich nach Hause kommst und ich ihn nicht mit Dir lesen kann – für den Fall, dass wir nicht gewonnen haben und wir uns lange Zeit nicht sehen werden.
Du sollst wissen, dass es mir gutgeht. Ich liebe Dich und ich weiß, dass Du mich liebst. Es geht mir gut, weil ich innerlich nicht tot bin, das verspreche ich, und ich möchte, dass auch Du innerlich lebendig bleibst. Der ganze Mist, den wir nicht kontrollieren können, die Dinge, die uns leiden lassen, machen uns nur stärker. Wenn wir sie überstehen, sind wir stärker, klüger und besser. Nur wir allein wissen, was wir und unser Leben wert sind, und wir müssen das Beste aus jedem Augenblick machen – egal, wo wir sind.
Ich habe mir Gedanken darüber gemacht, wie ich mein Leben lebenswert machen kann, und ich möchte, dass Du ganz genau darüber nachdenkst, was Dein Leben lebenswert macht. Sei nicht verzweifelt und gib Dich nicht auf. Lies, geh spazieren, schreibe, tanze, atme, denn ich werde es auch tun.
Ich sehe Dich morgen im Gericht. Ich bin bereit. Ich werde genau zuhören und darüber nachdenken, was ich zum Schluss sagen werde. Wenn es vorbei ist (und Du diesen Brief liest), musst Du mir sagen, was Du gedacht hast.
Ich kann es nicht erwarten, Dich zu sehen. Ich liebe Dich so sehr.
Bitte umarme Oma für mich.
Denk dran, nur Du kannst dein Leben sinnvoll machen. Danke dafür, dass Du mich immer daran erinnert hast, was wahre Liebe ist.
Ich liebe Dich immer,
Amanda

35
    3. Oktober 2011
    D er Tag der Urteilsverkündung.
    Immer mehr Pressevertreter versammelten sich im hinteren Bereich des Gerichtssaals und im Presseraum nebenan. Meine Familie hatte erfahren, dass über fünfhundert Journalisten über die Schlussplädoyers und die Urteilsverkündung berichten würden, und sie erzählten mir, dass auf der Piazza vor dem Gerichtsgebäude Übertragungswagen in Sechserreihen parkten. Ihre Anwesenheit garantierte, dass die Verkündung eines Urteils – der bewegendste Moment meines Lebens – um die Welt gehen würde.
    Meine Mutter und Chris, mein Vater und Cassandra, Deanna und meine Tanten Janet und Christina waren im Gerichtssaal. Sie alle dort zu haben war eine große Erleichterung. Diese Machtdemonstration verlieh mir das Gefühl, nicht allein zu sein; sie liebten mich, was auch immer geschehen würde. In den letzten vier Jahren hatte auch ihr Leben auf Eis gelegen. Sie hatten ihre Häuser beliehen, um alles zu bezahlen – meine Lebensmittel, meine Prozesskosten, ihre gemeinsam gemietete und genutzte Wohnung außerhalb von Perugia sowie die Flüge von und nach Seattle. Sie hatten alles geopfert, um sicherzustellen, dass einer von ihnen in den acht Stunden im Monat zugegen war, während denen ich Besuch empfangen durfte. Mein Vater erzählte mir, er habe bei zahlreichen Fahrten zum Gefängnis beobachtet, wie sich die Jahreszeiten abwechselten und die Jahre vergingen. Er war an denselben Bauernhöfen vorbeigefahren, als das Land bestellt, die Ernte eingefahren und der Boden umgepflügt wurde. Er hatte Neubauten von den Grundmauern bis zur Fertigstellung verfolgen können. Deanna war dermaßen traumatisiert gewesen, dass sie vom College abgegangen war.
    Dennoch hatten sie mich immer nur von der Seitenlinie aus anfeuern können. Von den 76000 Stunden, die ich seit dem 6. November 2007 im Gefängnis verbracht hatte, durfte ich sie nur 408 Stunden sehen
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