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Zeichen im Schnee

Zeichen im Schnee

Titel: Zeichen im Schnee
Autoren: Melanie McGrath
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schien.

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    1
    Edie Kiglatuk konnte nicht sagen, wie lange der Bär sie schon ansah. Seine runden braunen Augen waren wie in Pelzwolken gebettete dunkle Sterne am Sommerhimmel. Er hob die Nase, schnupperte, nahm Edies Witterung auf. Sein massiger Körper war eingerahmt von den verschneiten Bäumen des alaskischen Fichtenwaldes.
    Edie hatte in ihrem Leben oft genug mit Eisbären zu tun gehabt, um sicher zu sein, dass dies hier trotz seiner Färbung keiner war. Eisbären hatten längere Köpfe, spitzere Schnauzen und kleinere Ohren. Dieses Tier sah anders aus, es war stumpfschnauzig und zottig und so groß wie ein Schwarzbär. Aber eben nicht schwarz. Und mit den braunen Augen auch kein Albino.
    Auf dem langen Flug von Autisaq in der kanadischen Hocharktis, wo sie zu Hause war, hatte Edie sich die Zeit mit Handbüchern über die alaskische Flora und Fauna vertrieben, und jetzt kam ihr die Vermutung, dass dieses Tier ein Geisterbär war. Die
qalunaat
, die Weißen, nannten sie Kermodebären, doch die Gitga’at, die Einheimischen, kannten sie als
mooksgm’ol
und machten niemals Jagd auf sie. Sie sagten, diese Bären seien außerirdische Tiere, Wesen, denen die Macht gegeben war, Botschaften zwischen den Lebenden und den Toten zu übermitteln.
    Irgendetwas drängte Edie, näher heranzugehen. Sie schwang sich von ihrem Schneemobil und landete mit einem dumpfen Plumps im Schnee. Das erschreckte Tier stieß ein kurzes Bellen aus und stellte sich auf die Hinterbeine. Es war etwa einen Meter achtzig groß, doch seine Haltung war weniger angriffslustig als …
als was
? Edie kannte Bären von klein auf, aber der hier hatte etwas an sich, das sie nicht deuten konnte.
    Das Tier sah sie noch einen Moment an – seine Nüstern bebten, die kleinen braunen Augen glänzten wie ein regennasser Stein –, dann ließ es sich wieder auf alle viere fallen und stapfte langsam durch die Bäume davon. Von Zeit zu Zeit wandte es den Kopf, um sich zu vergewissern, dass sie ihm nicht folgte.
    Oder vielleicht, um sich zu vergewissern, dass sie ihm folgte.
    An einem sonnenbeschienenen Flecken zwischen zwei Fichten blieb der Bär stehen und sah sich um. Er stieß ein leises Husten aus, sein Atem trübte die Luft.
    Er wartete.
    Edie bewegte sich auf ihn zu, langsam zuerst, dann mit mehr Zuversicht. Einige Sekunden lang stand er unbewegt, dann drehte er sich um und schlurfte tiefer in den Wald hinein. Sie ging weiter vorwärts, überzeugt, dass der Bär sie irgendwohin führte, dass er sie auserkoren hatte.
    Sie sah auf die Uhr. Es war kurz nach neun Uhr morgens. In zwei Stunden würde Sammy Inukpuk zum offiziellen Start des Iditarod-Hundeschlittenrennens in Willow eintreffen und seine Exfrau bei der Helfertruppe erwarten. Es war ihre Aufgabe, ihn mit allem Notwendigen zu versorgen und ihn zu Beginn der zwei wohl härtesten Wochen seines Lebens, in denen er mit sechzehn Hunden gut 1850 Kilometer durch eines der rauesten Gebiete der Erde rasen würde, moralisch zu unterstützen. Von da an würde sie in Anchorage bleiben, Vorräte organisieren und zur Stelle sein, um die Hunde in Empfang zu nehmen, die sich unterwegs verletzt hatten. Ihr Freund und Gefährte Derek Palliser war für Logistik und Kommunikation zuständig – im Nordwesten in der Stadt Nome, dem Zielort des Rennens.
    Der Bär war etwa zwanzig Meter vor ihr; Edie ging weiter, vorbei an Weißfichten, dann an Zitterpappeln, stapfte durch Tiefschnee, während ihr das Herz bis zum Hals klopfte. Ihrem Gefühl nach waren sie schon lange Zeit unterwegs, als der Bär jäh stehen blieb und sich umdrehte. Er war jetzt weit entfernt und zwischen den Bäumen nur undeutlich zu sehen, wie Nebelschwaden im Dunkeln. Er beobachtete eine Weile, wie Edie sich ihm näherte, dann hob er den Kopf, schnupperte in die Luft, machte kehrt und trabte davon.
    Edie sah sich um. Zum ersten Mal in ihrem Erwachsenenleben musste sie feststellen, dass sie nicht wusste, wo sie war. Ein Blick auf ihre Fußspuren, die längliche Achten ergaben, sagte ihr, dass der Bär sie in Kreisen herumgeführt hatte. Sie befand sich in einer nasskalten Welt voll beweglicher Schatten und seltsamen Geflüsters, wie in einem Kindertraum, und sie hatte absolut keine Ahnung, wohin sie sich wenden sollte. Ihre Kehle schnürte sich zusammen, und ihre Handflächen wurden feucht.
    Sie tat einen tiefen, beruhigenden Atemzug und stand lauschend da, nahm die Geräusche des Waldes in sich auf und versuchte, sich an ihnen zu
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