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Zeichen im Schnee

Zeichen im Schnee

Titel: Zeichen im Schnee
Autoren: Melanie McGrath
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halb so breit, mit einem Schrägdach und stabilen Seitenwänden. Die Vorderseite war mit blumigen Ornamenten verziert, das Türchen mit einem groben Holzhebel versperrt.
    Edie sah sich um. Eine hauchdünne Schneeschicht hatte sich auf dem Dach angesammelt, aber an den Seiten war kein Schnee aufgehäuft, was darauf schließen ließ, dass die Hütte schon hier gestanden hatte, als es zuletzt schneite, aber höchstwahrscheinlich noch nicht viel länger. Ringsum waren weder Fußspuren von Tieren oder Menschen noch führten welche zu der Hütte hin. Sie stand da, als sei sie schon immer hier im Schnee gewesen, als würde sie einer anderen Wirklichkeit angehören und von kleinen Feen bewohnt.
    Jeder Gedanke an das Iditarod-Rennen war aus Edies Kopf verschwunden. Sie rief etwas, ohne jede Ahnung, wer oder was ihr antworten mochte, aber da war nichts als Stille. Bei der Hütte angekommen, duckte sie sich und legte den Hebel des Türchens um. Sie sah, dass drinnen etwas war, doch es war zu dunkel, um es deutlich zu erkennen. Ihr erster Gedanke war, es herauszuziehen, aber etwas hielt sie zurück. Der Geisterbär kam ihr in den Sinn, die Macht seiner stillen, gespenstischen Blässe. Plötzlich traf sie die Erkenntnis, dass der Bär sie hierhergeführt hatte, dass die Geister ihren Boten gesandt hatten, um sie an diesen Ort zu bringen.
    Sie kehrte zum Schneemobil zurück, nahm ihre Taschenlampe aus der Satteltasche, stapfte wieder zu der Hütte und öffnete das Türchen ein zweites Mal. Der Strahl der Lampe fiel auf ein Paket, das in ein prächtig besticktes rotes Tuch gewickelt war. Edie streckte vorsichtig die Hand aus und fasste es an. Das Tuch war steif, aber nicht hart gefroren. Da schätzungsweise minus 25 Grad waren, war es selbst im relativen Schutz des Waldes unwahrscheinlich, dass es schon sehr lange dort lag. Edie machte das Türchen weit auf, griff hinein und zog an dem Ding. Es war nicht befestigt und kam leicht heraus. Der Stoff war kostbar, Satin, vermutete sie, über und über mit einem Muster aus Blumen und Ranken bestickt und mit mehreren zu Schleifen gebundenen Schnüren umwickelt. Was sich darin befand, war sehr hart, seit langem gefroren. Mit dem Paket in der Hand stand sie auf, ging zum Schneemobil und legte es auf den Sattel, um es genauer betrachten zu können. Unter dem verzierten Stoff befand sich ein viereckiges weißes Leinentuch. Sie hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger, und sogleich löste sich das Tuch. Wie von selbst gingen die Schnüre um das Paket auf und enthüllten, was darin lag.
    Ihr stockte der Atem, ein beklemmendes Brennen schoss ihr den Rücken hinauf. Sie kniff die Augen zu, wollte das entsetzliche Etwas zum Verschwinden bringen, aber als sie die Augen wieder öffnete, war es noch da. Sie wich taumelnd zurück. Ihre Beine trugen sie nicht mehr, sie hielt sich am nächsten Baum fest. Sie glaubte ohnmächtig zu werden, sich übergeben zu müssen, aber keins von beidem geschah. Sie schlug die Arme um sich, schloss die Augen und drückte sie so fest zu, bis der Schmerz sie beruhigte. Als ihr Atem wiederkehrte, ungleichmäßig, keuchend, ging sie vorsichtig zurück zu dem Entsetzlichen, das sie aus dem gelben Miniaturhaus befreit hatte.
    Auf dem Sattel des Schneemobils lag ein Baby, vielleicht ein, zwei Monate alt, auf dem Bauch, tot und steif gefroren. Die Ärmchen waren erhoben, die Händchen zu winzigen Fäusten geballt, die Haut glitzerte von Eiskristallen. An einer Schulter war die Haut narbig wie von Frostbrand, aber es gab keine weiteren Verletzungen oder Anzeichen, die darauf schließen ließen, wie oder wann das Baby gestorben war.
    Unendlich behutsam fasste Edie mit ihren in Fäustlingen steckenden Händen das tote Kind an den Schultern und drehte es langsam herum. Es war die Leiche eines Jungen. Sein Gesichtchen war mit Eis überzogen, die Augen waren geschlossen, seine Miene sanft und friedlich. Er sah so wächsern aus, so abwesend, dass Edie sich einen winzigen Moment lang einredete, es sei eine Puppe, obwohl sie genau wusste, dass sie einen Leichnam vor sich hatte.
    Auf die zarte neue Haut des Jungen hatte jemand mit Fett und Zeichenkohle, möglicherweise auch mit Asche, ein kunstvolles, auf dem Kopf stehendes Kreuz gemalt.

[zur Inhaltsübersicht]
    2
    Chuck Hillingberg, der Bürgermeister von Anchorage, half seiner Frau Marsha vor der Zentrale des Iditarod-Rennens aus dem Dienstwagen und strahlte in die Kameras. J. G. Dillard, sein Kollege im Rathaus von Wasilla, der
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