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Wurst und Wahn

Wurst und Wahn

Titel: Wurst und Wahn
Autoren: Jakob Hein
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der Laden gleich neben unserem Bürohaus, der aussieht, als stamme er aus einer Fabrik für italienische Restaurants, mitsamt den Kellnern, den Menüs, der Musik und dem Umsonst-Grappa hinterher. Vermutlich konnte man das Ding mithilfe eines Krans und eines Tiefladers jederzeit problemlos in eine andere Straße oder eine andere Stadt versetzen. So richtig schlecht schmeckte das Essen dort nicht und obwohl jeder von uns das eine oder das andere bessere Restaurant kannte, gingen wir doch am Ende immer in diesen Laden. Der Rückweg war kalkulierbar, niemand musste sich in unbekannte Regionen wagen und die Verabredung war einfach: »Wir treffen uns beim gleichen Italiener.«
    Wissen Sie, essen ist für mich ein Vorgang, an dessen Ende man satt ist. Für dieses ganze Chichi um seltene Gewürze, Kombinationen von Pastinaken mit Zartbitterschokolade und Zutaten von anderen Kontinenten habe ich nie viel Verständnis gehabt. Ich möchte auch nicht diesen aufgesetzten Unterschied zwischen Schmecken und Geschmack verstehen. Mir schmeckt ein Gericht, wenn es mich satt macht, und wenn ich danach immer noch hungrig bin, dann ist es nicht mein Geschmack. Dass darin Fusionen von Orangenjus an Lachstartar stattfinden, interessiert mich überhaupt nicht, wenn diese Fusionen nicht zu meiner Sättigung geführt haben. Über dieses Thema habe ich früher endlose Gespräche mit meiner Frau geführt. Ich verstand nicht, warum sie plötzlich Ingwersuppe kochte, an der nichts dran war, und sie verstand nicht, warum ich gern Currywurst esse, obwohl mir danach immer ein wenig übel ist.
    Aber der gleiche Italiener war zum Glück kein Restaurant, das durch Innovation auffiel. Die Tageskarte dort hätte eigentlich Monatskarte heißen müssen, weil sie nur einmal im Monat wechselte und jeden Januar, März oder Dezember gleich war. Im März gab es Venusmuscheln, im August Pfifferlinge. Aber an diesem Abend erschien mir das Ganze wie ein Riesenvorteil: Denn so sicher, wie es beim gleichen Italiener nach dem Essen immer einen Schnaps auf Kosten des Hauses gab, so sicher war es, dass im Dezember Gänsekeulen mit Rotkohl auf der Tageskarte stehen würden. So war es immer, so würde es immer sein. Und wie in allen Jahren zuvor, würde ich sie bestellen. Was an diesen Gänsekeulen italienisch seinsollte, kann ich Ihnen nicht sagen, vielleicht der Balsamico in der Soße auf den vier Salatblättern am Rande des eigentlichen Geschehens.
    Was soll ich sagen, Herr Kommissar? Ich war entspannt, als wir sechs Uhr abends dort eintrafen. Die ersten Prosecco-Tabletts machten die Runde. Stößchen, Prostata, Salute, solche Sprüche. Dann bestellten wir das Essen. Ich dachte mir damals, wenn ich schon einen Abend mit meinen Kollegen im Restaurant verbringen musste, dann soll es wenigstens richtig teuer sein. Es gibt auch beim Essen eine Art Placebo-Effekt. Wenn ich mir etwas Teures mit einem irgendwie gut klingenden Namen bestelle, schmeckte es mir selbst beim gleichen Italiener gut.
    Noch am Morgen hatte mir meine Frau geraten, lediglich eine Suppe zu bestellen und nicht so viel Wein zu trinken. Aber ich hatte den Verdacht, dass es ihr nur darum ging, Geld für das neue »Sideboard« zu sparen. Sie hatte in den Wochen davor pausenlos über dieses Ding geredet, offensichtlich war das so eine Art halbhoher Flurschrank, für das es keinen normalen Namen gab. Aber Sideboard hin oder her: Hätte ich wenig getrunken, hätte ich meine Kollegen bald überhaupt nicht mehr verstanden und Suppe macht mich nur hungrig. Nichts konntemich davon abbringen, die Gänsekeulen von der Tageskarte zu bestellen.
    Der Alkohol hatte inzwischen schon seine Wirkung getan, die alljährlichen Scherze wurden gemacht und unsere Runde wirkte äußerlich fast schon wie eine Zusammenkunft unter Freunden. Bis das Essen kam. Als ich den Teller in der Hand des Kellners sah, hatte ich nur noch Augen für das Essen. Knusprig braun gebraten dampften zwei kräftige Gänsebeine auf einem Spiegel von Rotweinsoße. Ich sah die glatten, frisch von ihrer Plastikfolie befreiten Klöße, den schwarz schimmernden Dosenrotkohl. Die gebundene rötlich-braune Soße brandete in Wellen an den Tellerrand, während mir das Wasser im Mund zusammenlief. Die Vorhersehbarkeit des Ganzen versetzte mich in Vorfreude, Überraschungen waren nicht zu befürchten. Ich wusste genau, wie das Fleisch schmecken würde, kannte schon die Textur der Klöße und den Geschmack des Rotkohls. Ich freute mich auf das Gefühl von
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