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Wurst und Wahn

Wurst und Wahn

Titel: Wurst und Wahn
Autoren: Jakob Hein
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schrieb er über die Schwierigkeiten der ersten Tage, wie man damit umgehen konnte, welche Probleme man wie am besten vermeiden konnte und wie er es schließlich geschafft hatte, ein glücklicher Vegetarier zu werden. Seine Tipps waren echt gut. Ohne ihn wäre ich kaum bis Tag drei gekommen. An diesem Tag kontaktierte ich ihn erstmals direkt. Ich war der Annahme, dass Tom Tofu täglich Hunderte Mails erhalten würde, und war überrascht, dass er mir ziemlich bald zurückschrieb! Ich solle durchhalten, ermutigte er mich. Diese Ausbrüche würden bald vorbeigehen. Wenn ich Lust hätte, könnten wir uns doch mal treffen. Beglückt las ich seine Nachricht, so konnte es wieder weitergehen.

    Und tatsächlich löste sich nach etwa einer Woche meine Verzweiflung langsam auf und machte einer unverhofften Euphorie Platz. Sie können sich meine Erleichterung nicht vorstellen, Herr Kommissar. Nach den anstrengenden Tagen zwischen Gier und Verzweiflung schien sich jetzt Entspannung ihren Weg zu bahnen. Ich konnte es doch! Ich musste überhaupt kein Fleisch essen, um ein erfülltes Leben zu führen. Die Wiesen waren immer noch grün und der Himmel immer noch blau, da war es doch nebensächlich, dass das Essen nicht schmeckte. Und die viele Zeit, die ich durch die Umstellung auf vegetarische Ernährung gewonnen hatte! Der Vegetarier verzichtet aus Mitleid mit der Kreatur auf den Fleischgenuss, das vegetarische Essen bekam ich aus Selbstmitleid nicht herunter. Was sollte ich essen, wenn das Frühstück fade war, das Mittag wie ein unvollständiges Mosaik vor mir stand, weil das größte der Fächer im Menüteller leer blieb, und das Abendbrot trübselig meiner harrte. Wenn es überhaupt nicht mehr ging, würgte ich ein paar Scheiben wurstloses Brot herunter und trank dazu Wasser.
    Trotzdem fühlte ich mich kräftig und frisch. Jeden Tag hätte ich kilometerweit laufen, ein neues Hobby anfangen können, irgendwas! Und ich brauchte damals nur vier, fünf Stunden Schlaf. Niemals hätte ich gedacht, dass es mir so gut mit Verzicht gehen könnte. Zwischenzeitlich dachte ich sogar darüber nach, ob ich versuchen sollte, schmackhaft vegetarisch zu kochen. In der Buchhandlung schaute ich mir ein paar der Kochbücher zum Thema an, blätterte ein wenig darin herum und stellte sie zum Schluss aber doch angewidert ins Regal zurück. Es ist unmöglich, schmackhaft vegetarisch zu kochen, weil Gemüse nun mal nichts als eine Beilage ist, die schmerzhaft an das Fehlen des Eigentlichen erinnert. Ein Teller voll Gemüse ist so wenig eine Mahlzeit, wie ein Bräutigam vor dem Altar eine Hochzeit ist. Das ist die einfache Wahrheit, Herr Kommissar. Und Gemüse schmeckt einfach nicht. Von Kohl, Zwiebeln und Bohnen bekommt man Blähungen, Auberginen und Zucchini werden beim Garen schleimig und nach Paprika muss man aufstoßen. Einzig Kartoffeln sind ganz in Ordnung.
    Es ist ganz evident, dass die Menschen mit dem Verzicht auf Fleisch auch auf den Genuss verzichten. Schauen Sie sich nur die Kochbücher der Spitzenköche vergangener Zeiten, die berühmten Gerichte in den Romanen und Erzählungen aus goldenen Zeiten, die Nationalspeisen der Länder an! Selten werden Sie dort von Zucchinipfanne oder Wirsingauflauf hören oder lesen. Immer gehörte das Fleisch zum Festessen. Nein, Herr Kommissar, man kann sich nicht wohlschmeckend vegetarisch ernähren. Ich gab es einfach auf. Auch Früchte sollen ja vegetarisch sein und davon schmecken manche ganz gut. Ich konnte doch aber nicht den ganzen Tag Nachtisch essen! Das war vollkommen gegen alle animalischen Instinkte und Triebe. Meine Vorfahren waren nicht von den Bäumen herabgeklettert und hatten sich die Erde untertan gemacht, damit ich mich jetzt wie ein Gibbon ernährte!
    Dennoch sah ich in dieser Zeit alles positiv, war euphorisch. Ich genoss die Zeit, die ich gewonnen hatte, arbeitete ohne Pausen, machte große Spaziergänge und noch größere Pläne für die Zukunft. Ich war zuversichtlich, die Lage dauerhaft in den Griff bekommen zu haben.
    Keine Ahnung, wann mich meine Frau das erste Mal wegen meiner Aussetzer ansprach. Es war vielleicht so zwei, drei Wochen nach dem Tag X . Ich weiß noch, dass ich sie zunächst nicht ernst nahm und ihr nicht glauben wollte. Zum Beweis machte sie mit der Videokamera eine Aufnahme. Sie wissen ja selbst, Herr Kommissar: Es ist immer merkwürdig, seine eigene Stimme zu hören oder sich auf Video zusehen, aber diese Bilder waren für mich wahrhaft erschreckend: Die Aufnahme
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