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Wurst und Wahn

Wurst und Wahn

Titel: Wurst und Wahn
Autoren: Jakob Hein
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der Wurstfabrik. Ich hätte das Gefühl, dass ich wieder mit dem Fleischessen anfangen müsse, wenn mir mein Leben lieb war, sagte ich zu ihm.
    Tom Tofu hörte sich meine Erzählungen mit großem Interesse und viel Hinwendung an. Er erinnerte mich fast an einen Pfarrer im Beichtstuhl. Jedem würden solche Zweifel kommen, sagte er. Ihm selbst wäre es früher auch so ergangen. Ich solle mir deswegen keine Vorhaltungen machen. Ihm habedamals das Schreiben geholfen, sein Blog würde ich ja kennen. Für ihn sei das Schreiben über seine Existenz als Vegetarier ein großer Akt der Befreiung gewesen. Vielleicht wäre das auch ein Weg für mich?
    Ich war skeptisch. Sie müssen verstehen, Herr Kommissar, ich habe schon in der Schule ungern Aufsätze geschrieben. Das Schreiben selbst war nicht das Problem, aber dass die ganze Klasse es lesen konnte, gefiel mir nicht gerade und der Gedanke, ein Blog zu schreiben, das die ganze Welt lesen konnte, war mir ein Graus. Kein Problem, beruhigte mich Tofu. Es ginge ja eher um die Offenlegung der Probleme des vegetarischen Daseins im Allgemeinen. Wenn ich Lust hätte, könne ich ihm auch die Texte schicken und er würde sie unter seinem Namen in sein Blog setzen. In jedem Fall seien meine Erlebnisse ganz normal, eine vorübergehende Phase, die ich sicher überwinden würde, so wie er seine Phasen überwunden hätte. Ich sagte, das würde ich mir gern überlegen, warum sollte ich ihm nicht ab und zu einen kurzen Beitrag liefern.
    Natürlich, Herr Kommissar, Sie sind Kriminalist, und lächeln jetzt wissend hinter der Lampe hervor. Aber wie hätte ich ahnen können, dass er mir eine Falle stellte? Ich war schwach, ich war kraftlos, ichsuchte Zuspruch. Tom Tofu war der Strohhalm, an den ich mich klammerte.
    Er schöpfte einen Löffel Honig in die scheußliche Zimtbrühe, rührte um und lächelte mich an. Heute erscheint es mir absurd, aber damals bedeutete dieses Lächeln die Welt für mich. Wenn Tom Tofu, der berühmte Vegetarier-Blogger, mit mir Chai Latte trank und dabei lächelte, dann gab es Hoffnung. Ich schüttelte seine Hand, es würde für mich weitergehen. Noch am selben Abend schrieb ich meinen ersten Beitrag für das Blog von Tom Tofu.

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Entwöhnung – die Kraft ist weg
    Irgendwann später fragte mich meine Frau, ob ich depressiv sei – keine Ahnung, ob es ein paar Tage oder ein paar Wochen nach meinem unfreiwilligen Ausflug zu »Wurstwaren Europa« gewesen war. Nehmen Sie mir diese Ungenauigkeiten nicht übel, Herr Kommissar. Ich schwöre, dass ich es nicht besser rekonstruieren kann. Mein Leben ohne Fleisch kam mir vor, als wäre ich in einem illegalen Internierungslager gefangen, und die Zeit war der sadistische Folterknecht an diesem Ort des Grauens. Freude war jede Sekunde, die vergangen war, Qual jeder Augenblick, der vor mir lag.
    Die Frage meiner Frau begründete sich wohl darin, dass ich mich nicht so wie sie über das Sideboard gefreut hatte, als es endlich da war. Ich weiß noch, dass ich es mir sogar fest vorgenommen hatte, weil ich die Freude als meine eheliche Pflicht ansah. Aber stattdessen hatte ich mich in einem Labyrinth vollerSorgen und Befürchtungen verirrt. Ich wusste, es wäre besser gewesen, wenigstens Zustimmung zu zeigen, aber es ging nicht. Was, fragte ich mich, wenn ich mich nun bei meinen täglichen Gängen über den Flur an diesem neuen Sideboard stoßen würde, womöglich immer an der exakt gleichen Stelle? Am Anfang gäbe das vielleicht nur einen blauen Fleck, aber wenn ich mich wieder und wieder dort stoßen würde, dann würde das immer schlimmer werden und schließlich eine schwärende Wunde von meinem Oberschenkel aus den ganzen Körper mit den Reißzähnen des Wundbrandes auffressen.
    Sie brauchen nicht so zu schauen, Herr Kommissar. Heute ist mir der Unsinn dieser Gedanken klar, schon damals hatte ich eine Ahnung, dass sie töricht sind, aber ich konnte sie nicht unterdrücken. Meine eigenen Gedanken waren damals meine schlimmsten Feinde. Ich fürchtete, das Sideboard würde das zulässige Höchstgewicht überschreiten, das überhaupt im Flur gestellt werden darf, was wir selbst im Mietvertrag vor zwanzig Jahren unterschrieben haben, woran wir uns angeblich nicht mehr erinnern würden – der hemdsärmelige Chef der Mordkommission schnaubt dann immer so verächtlich, wenn ich das sage, und Zigarettenqualm kommt ihm aus den Nasenlöchern –, jedenfallsbrach in meinen Schreckensfantasien das Sideboard durch die Flurdecke zu den
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