Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Wurst und Wahn

Wurst und Wahn

Titel: Wurst und Wahn
Autoren: Jakob Hein
Vom Netzwerk:
Mietern unter uns, während diese sich gerade mit ihren sieben Kindern anzogen, um Lieder für bedürftige alte Leute singen zu gehen. Der Vater hatte noch Glück, insofern er nur vom Hals abwärts querschnittsgelähmt war, aber die anderen acht Köpfe der Familie würden nie wieder singen. Bei den Ermittlungen wären wir verdächtig, da wir uns in den Wochen zuvor pausenlos über den Lärm beschwert hatten. Dann würden sie mich mit einer schwärenden Wunde in ein thailändisches Gefängnis stecken, wo ich meine letzten Monate in einer Art und Weise verbringe, dass mir die anschließende Hölle wie ein Erholungsurlaub vorkommt.
    Nehmen Sie mir das mit dem Chef der Mordkommission nicht übel, Herr Kommissar, das waren damals eben so meine grauen Gedanken. Wahrscheinlich hatte meine Frau recht und ich war wirklich ein wenig depressiv. Unter uns wohnen seit Jahren die Webers, ein älteres Ehepaar. Die haben keine Kinder und über ihren Lärm habe ich mich niemals beschwert. Damals konnte ich mich einfach nicht mehr freuen. Worüber auch? Meine Haut war grau, mein Gang schleppend, meine Kleidung hing mir vom Körper. Zwölf Kilo hatte ich abgenommen, eswar erstaunlich, dass es nicht noch viel mehr war, das ich weniger war.
    Tom Tofu hatte mir den Tipp gegeben, doch vor allem vegetarisches Essen mit Gesicht zu essen, aber es half nichts. Zum Frühstück aß ich Schokobären oder die Cornflakes mit dem Hahn oder den Honigbienen auf der Schachtel. Doch so intensiv ich auch auf die Verpackung starrte, das ersehnte Gefühl, etwas Richtiges zu essen, stellte sich nicht ein. Auch wenn Dinosaurier-Nudeln in meiner Gemüsesuppe herumschwammen, brachte das keine Erleichterung. Denn egal ob Gemüsesuppe oder Bulgurplätzchen, Polentaauflauf oder Spinattaschen, ich konnte versuchen, meinen Kopf zu täuschen, mein Bauchgehirn ließ sich nicht hereinlegen. Schauen Sie nicht so verwundert, Herr Kommissar, ja es gibt so etwas wie das Bauchgehirn. In Magen und Darmwand finden sich mehr als hundert Millionen Nervenzellen und die sind bei Weitem nicht so leicht zu täuschen, wie ich das angenommen hatte. Ich schüttete das fleischlose Zeug in mich hinein und ein paar Minuten später kam dennoch das Alarmsignal: Hunger, wir haben immer noch Hunger! Wo ist das Stück totes Tier, das wir dringend brauchen, um uns zu ernähren? Da das Essen ohne Fleisch also sowieso nichts brachte, gab ich es fast ganz auf. Ich will es einmal soausdrücken, Herr Kommissar: Vegetarisch essen, das ist wie ein nicht erklärter Hungerstreik gegen sich selbst.
    Mit quälender Klarheit erinnere ich mich, wie ich in diesen Tagen auf dem Bahnhofsvorplatz plötzlich eine Wurst erblickte, sie war wohl einem Reisenden beim schnellen Weg zum Zug heruntergefallen. Sie lag direkt vor mir auf dem Asphalt, wälzte sich ein wenig in ihrem eigenen Ketchup. Ein wenig Wurstdampf stieg keck nach oben, wie um mich zu locken, ich spürte, wie mich mit dem Dampf ein angenehmes Gefühl von Kraft durchströmte. Dass sie auf dem Boden lag, dass sie angebissen war, dass womöglich etwas Straßenstaub an ihr klebte – dafür hatte ich keine Augen. Ich sah nur die Wurst, die scheinbar riesengroß vor mir lag. Ich hätte mich nur bücken, sie aufheben, dann in den Mund schieben, kauen, schlucken – ahh! Doch da war nichts mehr. Nichts. Ich suchte nach den Erinnerungen an die Zeit, wo mir so etwas noch Freude gemacht hatte. Ich lief suchend durch das Haus meiner Erinnerungen, doch sah ich dort nur leere Zimmer und im letzten stand eine Schüssel Hirsebrei auf dem Fußboden.
    Die Wurst ließ ich liegen, ein Hund, irgendein verwurmter, verlauster mit Dreck verschmierter Straßenköter, dennoch Tausende Male weniger degeneriert als ich, würde sich ihrer annehmen.
    Einer meiner damaligen Einträge in Tofus Blog beginnt mit den Worten: »Wo, oh wo nur ist das Stück Fleisch, das mir einst aus einem fröhlichen Soßenspiegel zulächelte?« Meine einzige Freude war Rückzug, Herr Kommissar.
    Ich wurde schrullig, vertrieb mir die Zeit mit ungekannten, fragwürdigen Vergnügungen. So schloss ich mich immer öfter im Bad ein und inhalierte Soledampf aus einem Inhalator. Das Gerät war eigentlich für die Linderung von Husten gedacht, aber für mich war es damals die einzige Freude, der letzte Exzess, so schien es mir, der geblieben war. Wenn ich lange genug inhaliert hatte und den salzigen Schleim aus den Bronchen hustete, bewirkte das für mich die Illusion einer Mahlzeit im Mund, es war mir ein
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher