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Wurst und Wahn

Wurst und Wahn

Titel: Wurst und Wahn
Autoren: Jakob Hein
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Fest.
    Auf der Toilette musste ich auch daran denken, wie gut früher meine Verdauung funktioniert hatte. Verzeihen Sie mir den Ausdruck, Herr Kommissar, aber früher hatte ich kacken können, dass es eine Freude war. Wem dieses Vergnügen nie abhandengekommen ist, der kann das nicht verstehen. Geschissen hatte ich, meine Güte! Jeden Tag ein Ei und sonntags auch mal zwei, pflegte ich zu sagen, Herr Kommissar. Das beschwingte Gefühl danach, was für eine Erleichterung. Und seitdem? Seit ich Vegetarier war, kann ich kein einfaches Kacken mehr. Vegetarier haben keinen Stuhlgang, hatte ich bei Tom Tofu gelesen, Vegetarier haben Verstopfung. Er empfahl, dass ich mir täglich drei Esslöffel Rizinus-Öl auf nüchternen Magen (was auch immer das für einen Vegetarier heißen sollte) einflößte und zweimal wöchentlich handwarme Einläufe mit pflanzlicher Gelatine machte, sonst würde bald gar nichts mehr gehen, sonst hieße es Rettungsstelle mit Tatütata und operative Entfernung von Kotsteinen. Ja, Kotsteine, so stand das da, offenbar ein medizinischer Fachbegriff. Vorher hatte ich auch nicht gewusst, dass es so etwas überhaupt gibt, aber die Vegetarier haben immerzu damit zu tun. Keine Verdauung, der Darm stößt die grässlichen Zutaten ab, kann dieses Pflanzenzeug, letztendlich Zellulose nicht verdauen, die Schlacke bleibt liegen und droht die Darmflora vollständig zu zerstören.
    Linsen, Dinkel, Grünkernbratlinge – niemand möchte so etwas essen. Zwei Zähne fielen mir schon in den ersten vier Wochen aus. Bei Tofu las ich, dass das noch vergleichsweise glimpflich sei. Viele würden am Anfang viel mehr Zähne verlieren. Die Zähne verabschiedeten sich vorzeitig, weil es nichts mehrfür sie zu tun gab. Die flauen Suppen und Pürees konnte man auch ohne ihre Hilfe hinunterschlingen. Früher, als sie noch Muskelfasern von Knochen reißen mussten, Hühnerbeine abnagten und ganze Muskelpartien zerteilen mussten, da gab es noch Arbeit. Vegetarische Ernährung hieß wortwörtlich ins Gras zu beißen.
    Natürlich schwand auch das Zahnfleisch, an irgendwelche Reserven musste der Körper ja heran. Am Anfang sei es am schlimmsten, später würde es immer langsamer gehen, schrieb Tom in seinem Vegetarier-Blog. Logisch, denn wenn ich am Anfang des Fleischverzichtes jede Woche einen Zahn verliere, kann ich schon ein halbes Jahr später nur noch einen einzigen Zahn verlieren. Und kurz darauf kann ich frohlocken, dass mir keine Zähne mehr ausfallen. Mann, diese Vegetarierlogik! Manchmal ging sie mir schon damals ziemlich auf die Nerven.
    Damals, Herr Kommissar, hatte ich mein Lächeln schon längst verloren. Fröhlich war ich nur noch, wenn ich an mein früheres Leben dachte. Unklar erinnerte ich mich daran, früher sogar arbeiten gewesen zu sein, offensichtlich sogar mehrmals monatlich. Das hätte ich inzwischen schon rein kräftemäßig nicht mehr geschafft. Überhaupt: meineAusstrahlung: Nach allem, was ich wusste, war ich früher ein Mann gewesen. Doch durch meinen Beitritt zum Vegetarismus änderte sich mein Körper. Die Grundspannung war dahin, besonders die Brust war in sich zusammengefallen. In Tom Tofus Blog las ich, das sei durchaus typisch und komme vom Östrogenmangel, den der Fleischverzicht auslöse. Längst habe sich der moderne Mensch an die Ernährung mit Östrogen-gemästetem Fleisch adaptiert. Lässt man das Fleisch nun mutwillig weg, fällt auch die Brust zusammen wie ein Kartenhaus. Ich roch auch nicht mehr männlich. Kein Steak, kein Testosteron, so einfach war das.
    Überhaupt gäbe es keine attraktiven Vegetarier, was aber nicht beunruhigend, sondern eine ganz normale biologische Folge sei, schrieb Tom in seinem Blog. Schließlich hätten vegetarisch lebende Menschen einfach nicht genug überschüssige Energie, um Schönheit auszustrahlen. Wie schon der Begriff »ausstrahlen« verrate, sei dies ein energieaufwendiger Prozess, den der Körper praktisch nur bei einem Überangebot von Energie leisten könne und den er bei Unterversorgung automatisch einstellen würde. Außerdem verkürzen sich bei Vegetariern die Beine und der Hals durch die spontanen Knochenbrüche wegen Kalk- und Proteinmangel. Derart zugerichtete Menschen könnten nun mal nicht dem althergebrachten Schönheitsideal entsprechen. Aber das sei nicht tragisch, Vegetarier seien ja sexuell ohnehin nicht aktiv.
    Tatsächlich: Wenn ich mich in der Öffentlichkeit bewegte, war das so, als gäbe es mich gar nicht. Der Mann ohne Eigenschaften war
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