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Wurst und Wahn

Wurst und Wahn

Titel: Wurst und Wahn
Autoren: Jakob Hein
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dabeihätte, würde mir sofort geholfen werden. Die Praxis war winzig klein und schien aus kaum mehr als demEingangsbereich zu bestehen. Gleich nach dem Eintreten fragte mich die Frau hinterm Tresen, ob ich von unten käme. Als ich erstaunt bestätigte, las sie meine Karte ein, nahm von einem Stapel ein Rezept, das sie mit meinem Namen bedruckte und mir aushändigte. Danach schauten wir uns beide für einen kurzen Moment ratlos an.
    Ob ich noch einen Wunsch hätte, fragte sie mich. Nicht direkt, sagte ich. Ob mich der Spezialarzt nicht noch sehen wolle? Das müsse nicht sein, sagte sie. Aber wenn ich darauf bestehen würde, müsse ich mich auf eine längere Wartezeit einrichten, der Herr Doktor sei gerade auf einem Außentermin. Mit einem etwas unguten Gefühl verließ ich diese merkwürdige Praxis.
    Unten im Laden nahm die Verkäuferin mein Rezept lächelnd entgegen und ging mit mir ins Hinterzimmer. Das Hinterzimmer in einem Erotikshop! Gewissermaßen das Hinterzimmer der Hinterzimmer, Herr Kommissar. Und meine Güte, was es da nicht alles gab! Im Wert von dreißig Euro durfte ich mir etwas zusammensuchen. Die Verkäuferin gab mir eine schwarze, blickdichte Plastiktüte, in die ich rasch ein paar besonders vielversprechende Produkte stopfte.
    Sie können es sich vielleicht vorstellen, Herr Kommissar: Endlich wieder Hoffnung! Seit ich kein Fleisch mehr aß, kannte ich dieses Gefühl fast nicht mehr. Zwischen Brokkoliröschen und Reisgebäck war mein sexuelles Begehren gänzlich erstickt gewesen. Jetzt rannte ich förmlich nach Hause, um zumindest wieder diese Fleischeslust in mir zu wecken. Ich kochte mir eine Tasse Kaffee und zündete im Bad ein paar Teelichter an. Wie lange war es her, zwei Monate, drei Jahre? Ich wollte diesen Moment einfach zelebrieren. Schon das erste Heft zeigte ungeahnte Dinge, von Seite zu Seite wurde es schärfer und verbotener. Niemand kann ahnen, was überhaupt anatomisch möglich ist zwischen Männern, Frauen, Lederpeitschen und einer Okarina. Erst behutsam, dann immer fester fasste ich nach meinem Geschlecht. Endlich war ich wieder ein Mann, etwas passierte, ein wenig Lust, ich war am Leben!
    Doch stellen Sie sich mein Entsetzen vor, Herr Kommissar! Vor Scham wäre ich am liebsten im Boden versunken, genau dort, wo der Boden weltweit am tiefsten ist. Oh nein, ich hätte schreien wollen. Noch immer hielt ich mein Geschlecht in der Hand, doch es war nicht mehr mit meinem Körper verbunden. Dort klaffte nur noch eine leere Stelle, die nicht einmal eine größere Wunde zu sein schien. Panisch leuchteten ein paar Tropfen Blut auf einem schrundigen Feld. Ich hatte mich kastriert! Alarmiert löschte ich die Teelichter, sammelte die Hefte in ihre Tüte und legte mein Geschlecht in eine Tüte voll Eis. Nicht schnell genug konnte mich die Straßenbahn zum Krankenhaus fahren.
    In der Rettungsstelle wusste ich erst nicht, wie ich mein Problem beschreiben sollte. Es gibt Dinge, die sind ein wenig peinlich, doch das hier war der internationale Weltrekord der Peinlichkeit. Aber der Arzt blieb professionell und routiniert. Als ich stammelnd begann, mein Problem zu schildern, fragte er mich unvermittelt, ob ich denn seit einiger Zeit Vegetarier sei. Überrascht bejahte ich. Er schaute mit dem mitleidigen Blick des Wissenden auf den Eisbeutel in meiner Hand. Dann könne ich den da gleich wegschmeißen, sagte er. Bei vegetarischer Mangelernährung reiche die Durchblutung einfach nicht für einen Penis aus, das sei eine ganz normale Nebenwirkung, ob mir das keiner gesagt habe. Der Verzehr von toten Tieren sei von jeher eine unabdingbare Voraussetzung für die Vitalität der männlichen Grundfunktion. Wenn ich darauf bewusst verzichte, so könne ich das tun, solle mich aber nicht wundern. Wer Abfahrtsski fährt, müsse mit zerrissenen Bändern im Knie rechnen. Und wer kein Fleisch isst, solle sich nicht über das Abfallen seines Penisaufregen. So was käme eben von so was. Risiken und Nebenwirkungen. Er gab mir noch ein paar Schlaftabletten, damit ich über den Verlust leichter hinwegkäme, warnte mich aber davor, die ganze Packung auf einmal zu nehmen.

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Hoffnung / Neubeginn
    Die schlimmen Stunden in der Rettungsstelle wurden zu meiner Schicksalsnacht, danach war vieles anders. Es gab für mich nicht mehr nur noch Tom Tofu und seine veganen Freunde, sondern ich begann, mich auch in Foren der anderen Seite der Diskussion umzuschauen. In einem Forum mit dem Namen »Meat friends« bekam ich einen
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