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Das letzte Revier

Das letzte Revier

Titel: Das letzte Revier
Autoren: Patricia Cornwell
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Prolog
Nach der Tat
    Die angeschlagenen Farben der kalten Dämmerung lösen sich in vollkommener Dunkelheit auf, und ich bin dankbar, dass die Vorhänge in meinem Schlafzimmer schwer genug sind, um auch die leiseste Andeutung meiner Silhouette zu verschlucken, während ich herumgehe und packe. Das Leben könnte nicht bizarrer sein, als es im Augenblick ist.
    »Ich möchte einen Drink«, sage ich, als ich eine Kommodenschublade aufziehe. »Ich möchte ein Feuer im Kamin machen, was trinken und Pasta kochen. Gelbe und grüne Bandnudeln, Paprika, Wurst. Le pappardelle del cantunzein. Ich wollte schon lange ein Freisemester nehmen, nach Italien gehen und richtig Italienisch sprechen lernen. Nicht nur die Namen von Gerichten. Oder vielleicht auch Frankreich. Ich werde nach Frankreich gehen. Warum nicht?«, füge ich einerseits hilflos, andererseits wütend hinzu. »Ich könnte problemlos in Paris leben.« Das ist meine Art, Virginia und alles, was dazugehört, in Bausch und Bogen von mir zu weisen.
    Captain Pete Marino steht in meinem Schlafzimmer wie ein dicker Leuchtturm, seine riesigen Hände stecken in den Taschen seiner Jeans. Er fragt gar nicht erst, ob er mir beim Packen des Kleidersacks und der Taschen helfen kann, die offen auf dem Bett liegen. Er kennt mich gut genug, um nicht einmal einen Gedanken daran zu verschwenden. Marino mag aussehen wie ein Prolet, reden wie ein Prolet, sich verhalten wie ein Prolet, aber er ist schlau wie ein Fuchs, sensibel und höchst aufmerksam. In diesem Augenblick zum Beispiel hat er eine schlichte Tatsache nicht vergessen: Vor noch nicht einma l vierundzwanzig Stunden schlich ein Mann namens Jean-Baptiste Chandonne im Vollmond durch den Schnee und verschaffte sich mit einem Trick Einlass in mein Haus. Ich war bereits bis ins letzte Detail vertraut mit Chandonnes Modus Operandi, deswegen kann ich mir haargenau ausmalen, was er mit mir angestellt hätte, wenn es dazu gekommen wäre. Aber bislang bin ich nicht in der Lage, mir anatomisch korrekt vorzustellen, wie meine eigene, grausam misshandelte Leiche ausgesehen hätte, dabei könnte niemand so etwas besser beschreiben als ich. Ich bin Gerichtsmedizinerin mit einem juristischen Abschluss und die Chefpathologin des Staates Virginia. Ich habe die beiden Frauen seziert, die Chandonne vor kurzem hier in Richmond umgebracht hat, und kenne die Akten von sieben weiteren, die er in Paris ermordet hat. Leichter fällt es mir zu beschreiben, was er seinen Opfern angetan hat: Er hat sie auf brutalste Weise geschlagen, sie in Brüste, Hände und Füße gebissen, mit ihrem Blut gespielt. Er benutzt nicht immer die gleiche Waffe. Letzte Nacht war es eine spezielle Art von Maurerhammer. Das Werkzeug sieht in etwa so aus wie ein Pickel. Ich weiß, wie man damit einen menschlichen Körper zurichten kann, weil Chandonne mit einem Maurerhammer -demselben vermutlich - sein zweites Opfer in Richmond umgebracht hat, die Polizistin Diane Bray, vor zwei Tagen, am Donnerstag.
    »Was ist heute für ein Tag?«, frage ich Captain Marino. »Samstag, oder?« »Ja. Samstag.«
    »Der achtzehnte Dezember. In einer Woche ist Weihnachten. Schöne Feiertage.« Ich öffne eine Tasche des Kleidersacks.
    Er beobachtet mich wie jemanden, dessen Verhalten jeden Augenblick ins Irrationale kippen könnte, in seinen blutunterlaufenen Augen spiegelt sich ein Argwohn, der mei n ganzes Haus durchdringt. Misstrauen ist mit Händen zu fassen. Ich schmecke es wie Staub. Ich rieche es wie Ozon. Ich spüre es wie Feuchtigkeit. Das Zischen von Autoreifen auf der nassen Straße, der Missklang von Schritten, Stimmen und Funksprüchen klingt wie disharmonischer Höllenlärm, während die Polizei weiterhin mein Haus belagert. Meine Privatsphäre wird verletzt. Jeder Zentimeter me ines Zuhauses wird unter die Lupe genommen, jede Facette meines Lebens bloßgelegt. Ich könnte genauso gut als nackte Leiche auf einem der Stahltische im Leichenschauhaus liegen. Marino weiß also, dass er mich gar nicht zu fragen braucht, ob er mir beim Packen helfen soll. O ja, er weiß verdammt gut, dass er es sich besser nicht einfallen lässt, irgendetwas anzufassen, und sei es auch nur ein Schuh, eine Socke, eine Haarbürste, eine Flasche mit Shampoo, nichts. Die Polizei hat mich gebeten, mein stabiles Steinhaus, mein Traumhaus, zu verlassen, das ich in diesem ruhigen, bewachten Viertel im West End gebaut habe. Man stelle sich das vor. Ich bin ziemlich sicher, dass einer wie Jean-Baptiste Chandonne - Le
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