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Mitternachtskinder

Mitternachtskinder

Titel: Mitternachtskinder
Autoren: Salman Rushdie
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    Leanan Sidhe
    D ie Jägerin zu sein, daran war ich gewöhnt. Wenn ich etwas sah, das ich wollte, stellte ich ihm nach, witterte es, holte es mir.
    Mit »es« meine ich natürlich »ihn«. Ich mochte sie jung, begabt, männlich. Je hübscher, desto besser. Versüßte mir die ganze Sache. Ich musste sie mir schließlich anschauen, bis sie starben. Da war es selbstverständlich angenehmer, wenn sie gut aussahen.
    Ich war nicht grausam. Ich war großzügig. Jeder von ihnen bettelte mich geradezu um das an, was ich ihm dann gab: Schönheit, Inspiration, Tod. Ich verwandelte ihr gewöhnliches Leben in etwas Außergewöhnliches. Ich war das Beste, was jedem Einzelnen von ihnen passieren konnte.
    Ja, eigentlich war ich weniger eine Jägerin, mehr eine Wohltäterin.
    Aber heute, in diesem herbstlichen Wald, war ich keines von beidem. Jemand hatte mich herbeigerufen, mich aus meiner nicht greifbaren Gestalt in einen richtigen Körper gezogen. Ich sah hier niemanden, konnte aber noch die Überreste eines Zaubers riechen. Ich konnte meine Schritte im trockenen Laub hören, und das Geräusch machte mich nervös. Ich fühlte mich verletzlich in diesem blutroten Wald, kam mir laut und allzu sichtbar vor in meiner Gestalt als Menschenmädchen. Daran war ich nicht gewöhnt. Überall um mich roch es nach verbranntem Thymian und schwelenden Blättern, nach Beschwörungszaubern und Herbstfeuern. Sobald ich den ersten menschlichen Gedanken zu fassen bekäme, würde ich mich daran festkrallen und von hier verschwinden.
    »Hallo, Fee.«
    Ich drehte mich um, gerade rechtzeitig, um noch den Eisenstab zu erblicken, der mir durchs Gesicht gestoßen wurde.
    Neue Textnachricht
    An:
    James
     
    Kannst du noch hellsehen? Kannst du unsere zukunft an der t-a sehen? Ich habe das gefühl, alles aus dem letzten sommer verfolgt uns noch. Ich dachte, es sei vorbei.
     
    Absender:
    Dee
     
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    Nachricht wurde nicht gesendet.
     
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    Nachricht wird 30  Tage gespeichert.

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    James
    M usik ist mein Leben.
    Ich hatte sämtliche Broschüren der Thornking-Ash School of Music gelesen, ehe ich mich beworben habe. Darin wurde behauptet, die Schule würde unsere vielversprechenden musikalischen Anlagen fördern. Akademische Herausforderungen sollten uns erwarten. Nach den Versprechungen in den Broschüren würden wir als hochbegabte Superteenager mit Bestnoten von der Highschool abgehen und bräuchten bei der Bewerbung an den besten Universitäten nur noch unser vielfältiges außerschulisches Engagement auf den Tisch zu legen, um den Stich zu machen.
    Damals dachte ich: cool. Außerdem ging Deirdre dahin, also musste ich mitgehen.
    Aber all das hatte ich gedacht, bevor es wirklich losging. Als ich dann da war, stellte ich fest, dass eine Schule eben doch nur eine Schule ist. Jacke wie Hose. Dasselbe in Grün. Natürlich war ich erst seit sieben Tagen an der Thornking-Ash, also sollte ich der Sache vielleicht etwas mehr Zeit lassen. Aber Geduld war nun mal nicht meine Stärke. Und offen gestanden, war mir einfach nicht klar, weshalb wir uns wegen ein paar Wochenstunden Musiktheorie und der Unterkunft auf dem Campus hinterher von anderen Highschool-Schülern unterscheiden sollten.
    Wahrscheinlich hätte ich das anders gesehen, wenn ich Cello oder so was spielen würde, denn dann hätte ich in einer der acht Millionen Orchestergruppen an der Schule mitspielen können. Wenn die Leute von »Musikern« sprachen, meinten sie damit irgendwie nie »Dudelsackspieler«. Wenn ich die Wörter »Folkmusiker« oder »Sackpfeifer« noch ein einziges Mal hören müsste, würde ich jemanden schlagen.
    Jedenfalls waren wir (meine Mitschüler und ich) an den Tagen eins bis sechs damit beschäftigt, uns zu »orientieren«. Wir lernten, wo welcher Unterricht stattfand, wie die Lehrer hießen, wann man im Speisesaal zu essen bekam und dass die Tür zu meinem Wohnheimzimmer im dritten Stock klemmte. Am fünften Tag kannte ich mich aus. Am sechsten war mir bereits alles vertraut.
    Am siebten Tag wurde mir langweilig. An jenem Abend setzte ich mich ins Auto meines Bruders und hörte Musik, in der eine ordentliche Portion Wut mitschwang, garniert mit Sehnsucht. Ich hatte mal irgendwo von einer Studie gelesen, bei der Wissenschaftler einer Gruppe Ratten Rockmusik und einer anderen Gruppe Klassik vorgespielt hatten. An die Einzelheiten konnte ich mich nicht erinnern, aber nach ein paar Wochen stiegen die Klassikratten friedvoll die
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