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Wurst und Wahn

Wurst und Wahn

Titel: Wurst und Wahn
Autoren: Jakob Hein
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der Anblick eines Hundes löste den nächsten Schub aus. Hot dogs, dachte ich unwillkürlich. Kleinere leckere Würste im Kuschelpelz. Warum eigentlich nicht? Sie können es mir glauben, Herr Kommissar, dass diese Gedanken für mich selbst unheimlich waren. Ich habe inmeinem Leben niemals Hundefleisch gegessen, nun sehnend diesem Dackel hinterherzuschauen und zu taxieren, wie viel Fleisch wohl an ihm dran sein könnte, war für mich unangenehm und verwirrend.
    Auf dem Weg musste ich an früher denken: Salamibrötchen im Bäckerimbiss, Streichwurstwerbung an den Werbetafeln, die Dönerspieße rotierten im roten Licht der aufgehenden Sonne, jeden Tag stand der Aufsteller12 »Nur heute: Großer Grillteller 6,99!« vor dem Dubrovnik-Grill. Wo waren sie hin, diese glücklichen Zeiten? Sieben Euro, ein Klacks. Ich stellte mir vor, wie ich ganz ohne Besteck die Fleischmassen einfach in mich hineinschlingen, kurz kauen und herunterschlucken würde. Sogar das würzige Fett würde ich zum Schluss noch mit Brot vom Teller saugen, bis der glänzte und blinkte, ach was Brot!, ich würde einen der herrlich trockenen Cevapcici dafür nehmen. Den Tag verbrachte ich in einem Zustand eingeschränkter geistiger Präsenz, ich habe keine weiteren Erinnerungen an ihn als diese Erinnerungen, die mich quälten.
    Mein dritter Tag begann etwas besser, ich aß Marmeladenbrot um Marmeladenbrot, bis einfach nichts mehr hineinpasste. Mein Plan war, kein FitzelchenPlatz mehr im Magen zu lassen. Mein Körper – eine Stopfgans. Trotzdem spürte ich eine halbe Stunde später wieder diese Gier. Überall um mich herum sah ich Fleisch: die rosigen Gesichter der Menschen, die Singvögel in den Bäumen, die Hunde, die Katzen – alles Fleisch.
    Hunger! Ich hatte Hunger! Konnte mich denn niemand hören? Irgendeine Art von Fleisch wollte ich essen, egal was. Drüben düngte ein Gärtner die Grünanlagen mit Hornmehl. Durch die hohe Luftfeuchtigkeit des Morgens roch es angenehm nach den zerschroteten Rinderhörnern und Hufen. Ich hätte dem Mann mit der grünen Latzhose am liebsten die Tüte aus der Hand gerissen und auf der Stelle die Späne gefuttert.
    Vorher war ich nie so gewesen, ich schwöre, Herr Kommissar! Das Schlimmste, was man mir früher vorwerfen konnte, war vielleicht, dass ich ein wenig langweilig war. Und nun kämpfte ich mit sich mir aufdrängenden Gewaltfantasien.
    In unserer Kantine gab es immerhin sogenannte Bratlinge. Dinkelbratlinge, Sojabratlinge, Gemüsebratlinge, jeden Tag eine andere Sorte. Irgendwie zusammengepapptes Zeug, das dann in der Pfanne gebraten wurde und eine Art Fleischersatz war. Tatsächlich halfen sie mir etwas, meine Anfälle vonFleischgier zu mildern. Ich stellte mir bei jedem Bissen vor, wie ich früher in Würste oder Buletten gebissen hatte, gewöhnungsbedürftig, aber besser als nichts.
    Nach außen war ich natürlich bemüht, mir nicht anmerken zu lassen, wie schwer mir der Verzicht fiel, und glaubte auch, mich einigermaßen im Griff zu haben. Aber die langjährige Sekretärin sprach mich an diesem Tag an und bat mich inständig, doch weniger über Fleisch zu reden. Sie sei keineswegs die Einzige, ein paar Kollegen hätten das auch schon gesagt. Natürlich habe man Verständnis für meine Lage. Ob mir das mit der vegetarischen Ernährung denn so schwerfallen würde? Ich konnte förmlich hören, wie daraufhin bei mir eine Saite riss. Das ginge sie überhaupt nichts an, bellte ich nervös zurück. Sie solle sich um ihre eigenen Angelegenheiten kümmern, wie ihren Ehemann, der doch wohl auffällig oft auf Dienstreise sei. Und im Übrigen würde mir das überhaupt nichts ausmachen mit der vegetarischen Ernährung.
    Spätestens hier hätte ich Schluss machen sollen, Herr Kommissar. Mir hätte klar werden müssen, in welche Abgründe ich mich begeben hatte. Bisher war ich immer so ein friedfertiger, total unauffälliger Mensch gewesen, meine Mitschüler brauchten zumTeil zwei bis drei Schuljahre, um sich meinen Namen zu merken. Und jetzt hatte ich es gewagt, die ungekrönte Königin unseres Teams zusammenzubrüllen, ohne mir Gedanken um die Konsequenzen zu machen. Wäre ich heimlicher Raucher gewesen, wäre ich danach auf die Toilette gegangen, um dort eine Zigarette zu rauchen, aber wo hätte ich heimlich ein Stück Fleisch essen können?
    Tom Tofu war der Online-Name eines Vegetariers, dessen Blog ich zum ersten Mal in jener Nacht gelesen hatte, in der ich in die Vegetarier-Falle gegangen war. In seinem Blog
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