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Wurst und Wahn

Wurst und Wahn

Titel: Wurst und Wahn
Autoren: Jakob Hein
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Jahre hier im Vernehmungsraum verbringe, werde ich auch nicht Kommissar, wenn Sie verstehen, was ich meine, Herr Kommissar. Es war einfach meine Entscheidung, kein Fleisch mehr zu essen, sagte ich mir. Deswegen wollte ich noch lange nicht in einen Club oder eine Art Glaubensgemeinschaft eintreten.
    Klar, wenn man es genau betrachtete, hatte ich bisher immer mal Fleisch gegessen. Also meistens. Im Grunde zu jeder Mahlzeit. Zum Frühstück schon hatte ich gern ein Scheibchen Wurst auf dem Brot, und ein Mittagessen war für mich kein richtiges Mittagessen ohne ein Schnitzel oder eine Scheibe Kassler, und wie sollte man einschlafen ohne das kleine Würstchen mit Senf spät am Abend. Aber am Sonntag hatte ich zum Beispiel ziemlich oft Waffeln oder Eierkuchen zum Frühstück gegessen. Völlig fleischfrei! (Wenn man von den Bacon-Streifen absah.) Und dennoch war ich mir absolut sicher, problemlos ohne Fleisch leben zu können, es war eine einfache Entscheidung, die in meiner Hand lag. Ich würde mich deswegen nicht als Gemüsefresser abstempeln lassen. Bisher hatte ich so gelebt, ab jetzt machte ich das eben eine Zeit lang anders. Zum Beweis ging ich gleich an diesem Abend ohne Wiener ins Bett.
    Der erste voll vegetarische Tag war noch ganz okay. Zwischenzeitlich spürte ich Attacken von Selbsthass, weil ich mich zu diesem Schwachsinn hatte hinreißen lassen, dann aber tröstete ich mich damit, dass es so schlimm schon nicht werden würde. Dann aß ich eben ein paar Tage oder ein paar Jahre kein Fleisch. Na und? Schließlich hatte ich früher schon mal eine Woche lang nichts als Salat gegessen und mich dabei pudelwohl gefühlt. Gut, das war Fleischsalat gewesen, aber eben hauptsächlich doch Salat, wie der Name ja sagt. Ein Perlhuhn ist ja auch vornehmlich ein Huhn und keine Perle. Deutsche Sprache, ganz einfach. Allerdings muss ich zugeben, dass sich die Erinnerung an ein Perlhuhn, das wir mal bei einem Urlaub in Malta serviert bekommen hatten, schon an meinem ersten fleischfreien Tag schmerzlich und seltsam sentimental anfühlte.
    Richtig schlimm wurde es erst am zweiten Tag, Herr Kommissar. Ich wachte mit einem unglaublichen Brand auf, weil ich in der Nacht von einer Schlachteplatte geträumt und davon so stark auf dasKopfkissen gesabbert hatte, dass ich nun unbeschreiblich durstig war. Als ich den Kühlschrank öffnete, um ein Mineralwasser herauszuholen, entdeckte ich in seinem hinteren Bereich einen offensichtlich vor langer Zeit vergessenen Rest Lyoner Schnittwurst. Sie können sich kaum vorstellen, wie überdeutlich meine Sinne diesen Wurstrest wahrnahmen. Obwohl ich die Kühlschranktür rasch wieder zumachte, begann ich sofort, eine Wurstschorle zu fantasieren. Gab es das überhaupt, fragte ich mich. Warum nicht, schließlich gab es Apfelschorle, Bier mit Cola, Weinschorle, warum sollte es keine Wurstschorle geben? Oder eine Dönerschorle. Ich grübelte, ob das Trinken einer Wurstschorle eine Verletzung meines Vorsatzes gewesen wäre, kein Fleisch mehr zu essen, da ich doch nur eine kleine Schorle trinken wollte.
    Diese Gedanken waren fremd und mir kam es vor, als ob sie jemand anders dachte, als ich mich dabei ertappte, wie ich am Glasboden der Mineralwasserflasche leckte. Wenn ich das heute erzähle, könnte ich vor Scham im Boden versinken, aber es ist die Wahrheit und mein Geständnis soll aus nichts als der Wahrheit bestehen. Herr Kommissar, nie zuvor hatte ich so deutlich wahrgenommen, wie stark der Geschmack von Kühlschrank durch Wurst geprägtist. Eine lecker-rauchige Note von Salamischeiben, köstliches Majoranaroma von Bratwurst, Generationen von Koteletts konnte ich auf dem Flaschenboden ausmachen. Verzückt schloss ich die Augen und ließ es einfach geschehen. Nach ein, zwei Runden mit der Zunge um den Flaschenboden kam ein neuer, irgendwie frischer Fleischgeschmack dazu. Ich hatte mir die Zunge an der Kante verletzt, der Flaschenboden war blutig eingefärbt. Es war mein eigenes Blut, das mir so animalisch gut schmeckte. Als ich meine Frau auf dem Flur hörte, wachte ich plötzlich auf aus meinem Rausch. Hastig beseitigte ich die Spuren und stellte die Flasche zurück in den Kühlschrank. Zum ersten Mal beschlich mich die Befürchtung, dass ich meinen Verstand verlieren könnte.
    Ich griff meine Aktentasche und verließ grußlos die Wohnung in der Hoffnung, dass die frische Luft und die Routine des Arbeitsweges mein Nervenkostüm wieder stabilisieren würden. Aber diese Hoffnung war vergeblich. Schon
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