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Wurst und Wahn

Wurst und Wahn

Titel: Wurst und Wahn
Autoren: Jakob Hein
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Übersättigung, das sich mit Sicherheit einstellen würde, dieser schöne schlafähnliche Zustand, aus dem mich nur der Schnaps danach wieder herausholen würde.
    Da erst bemerkte ich die Stille am Tisch. Meine Kollegen starrten mich an, in ihren Augen Entsetzen. Was war das Problem, fragte ich mich. DerReißverschluss meiner Hose war nicht zu sehen, daran konnte es nicht liegen, abgesehen davon hätte ein so lässliches Versehen nicht als Erklärung ausgereicht. Sie hätten nicht bestürzter schauen können, wenn ich pudelnackt dagesessen hätte. Jäh erwacht aus bacchantischen Fleischfantasien war meine Ratlosigkeit mindestens ebenso groß wie ihr Entsetzen.
    »Sag mal, du isst noch Fleisch?«, brach schließlich Regina, die langjährige Sekretärin, das Schweigen. Es gab sie und Viola, die langbeinige Sekretärin. Viola sah besser aus, aber Regina war die Wortführerin.
    Angesichts der Tatsache, dass der Teller mit den braun schimmernden Geflügelkeulen inzwischen vor mir stand und ich gerade dabei war, mir die Serviette auf den Schoß zu legen, blieb mir nichts übrig, als geistesgegenwärtig »Äh – ja«, zu räuspern.
    Schon brach ein Sturm der Empörung über mich herein. Ob ich denn noch bei Trost sei? Ob ich wüsste, dass die Tiere, für deren Tod ich nun verantwortlich sei, mit diesen Keulen niemals mehr als nur ein paar Schritte hätten laufen können, dass sie vor ihrem grausamen Tod niemals das Licht gesehen hätten, zu Tausenden eingepfercht, bei lebendigem Leibe gerupft, noch in halb lebendem Zustand durch Kotbrühe gezogen und schließlich zerhackt werden.

    Das schmackhafte Gericht vor mir verwandelte sich in einen Kriegsschauplatz und wurde über das Gerede kalt und unansehnlich. Mir verging der Appetit. Aber nicht, weil mich die wütenden Tiraden meiner Kollegen überzeugt hätten, sondern weil mir mein so freudig herbeigesehntes Essen nicht gegönnt wurde.
    Ich wollte endlich meine Ruhe haben. »Im neuen Jahr esse ich ja auch kein Fleisch mehr«, sagte ich schließlich, »aber ich dachte, heute könnte ich noch einmal sündigen.« Und tatsächlich wirkte diese plumpe Notlüge. Der Redeschwall ebbte ab, die Stimmung hellte sich auf und Regina erzählte die Geschichte, wie sie zum letzten Mal Fleisch gegessen hatte, und Holgi, der eigentlich Holger heißt, hatte auch irgendwas zum Thema beizusteuern. Dazu schaufelten sie ihre Salate, Suppen und Aufläufe in sich hinein. Ich aß nun betont langsam die Klöße und den Rotkohl und schnitt mir nur ein kleines Stückchen dunkelbraunes Fleisch aus einer der Keulen heraus, als gerade keiner hinschaute. Es schmeckte nicht einmal besonders. Vermutlich war die Gans ebenso aus dem Vorjahr wie die Speisekarte, auf der sie gestanden hatte. Dennoch war ich traurig, als der Kellner den Teller abräumte (»Atte niché schmeckt?«). Die Gans würde davon nicht wieder lebendig werden, dass ihre Keulen nun im Mülleimer des gleichen Italieners landeten.
    Aber meine Kollegen waren zufrieden: »Das finde ich super, dass du auch jetzt kein Fleisch mehr isst«, erteilte Regina mir gewissermaßen Vergebung. Traurig dachte ich an Schnitzel und Buletten, Cervelatwurstbrötchen und Wiener mit dunkelgelbem Tütensenf. Auf Nimmerwiedersehen!
    Druck und Zwang. So bin ich Vegetarier geworden.

[Menü]
Entzug – darf man dazu eigentlich Cold Turkey sagen?
    Als ich nach Hause kam, erzählte ich meiner Frau schlecht gelaunt von dem misslungenen Abend, aber sie war hocherfreut. Ihre Rechnung war einfach: Das Haushaltsbudget minus teures Fleisch ist gleich Riesenersparnis für das verdammte Sideboard. Warum war ich eigentlich verheiratet? Natürlich erwartete ich mir nach all den Jahren keine Zärtlichkeiten mehr von ihr, aber dass mich meine Ehefrau wenigstens ein bisschen tröstet, wenn ich ihr von meinem Desaster erzähle, das hatte ich schon erwartet. Doch ihre Gedanken drehten sich nur um das Sideboard, unsere Ehe war für sie kaum mehr als eine Art der Beschaffungsgemeinschaft für scheußliche Möbel.
    Trotzig sagte ich ihr, dass es mir nichts ausmachen würde, auf Fleisch zu verzichten. Sie sagte, das fände sie sehr gut und sie würde mich dabei unterstützen, Vegetarier zu werden. Ich möchte auf keinen Fall Vegetarier werden, schrie ich auf. Meine Güte, ichwollte einfach nur ein paar Jahre lang kein Fleisch mehr essen. Dadurch würde ich doch nichts werden. Wenn ich zwei Jahre in Tirana arbeite, werde ich doch auch nicht Albaner. Und wenn ich die nächsten zwanzig
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