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Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede

Titel: Wovon ich rede, wenn ich vom Laufen rede
Autoren: Haruki Murakami
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aus dem Wasser, und die Aussicht ist herrlich (obwohl ich natürlich nicht die Muße hatte, sie zu genießen). Von Murakami ging es in Richtung Norden am Meer entlang; gewendet wurde an der Grenze zur Präfektur Yamagata, dann fuhr man den gleichen Weg zurück. An verschiedenen Stellen führte die Strecke bergauf oder bergab, aber nirgends so steil, dass ich mir graue Haare wachsen lassen musste. Ohne ans Überholen oder Überholt-Werden zu denken strampelte ich in einem niedrigen Gang in gleichmäßigem Tempo vor mich hin. In regelmäßigen Abständen griff ich nach der Wasserflasche, um rasch einen Schluck zu nehmen. So bekam ich mit der Zeit wieder ein Gefühl für mein Rad. Um den Wendepunkt schaltete ich in einen höheren Gang, beschleunigte und überholte in der zweiten Hälfte des Rennens sieben Leute. Es blies kein starker Wind, und ich konnte ungehindert in die Pedale treten. Starker Wind kann für unerfahrene Radfahrer wie mich ziemlich erschwerend sein. Um den Wind für seine Zwecke zu nutzen, braucht man jahrelange Erfahrung und eine ausgefeilte Technik. Bei fast vollständiger Windstille ist jedoch alles nur eine Frage der Kraft in den Beinen. Am Ende schaffte ich die 40 Kilometer in einer besseren Zeit als erwartet. Nun wechselte ich in meine guten alten Laufschuhe und ging zum letzten Teil über.
    Da ich jedoch zu viel Kraft in die zweite Hälfte des Radrennens investiert hatte, fiel mir das Laufen so richtig schwer. Normalerweise hätte ich beim Radrennen zum Schluss bewusst etwas nachgelassen, um Kraft für den Lauf am Ende zu sparen, aber im Eifer des Gefechts hatte ich nicht mehr daran gedacht und war voll eingestiegen. Direkt danach musste ich mich in den Lauf stürzen. Wie zu erwarten, funktionierten meine Beine nicht so, wie sie sollten. Mein Gehirn gab das Kommando »Lauft!«, aber die Muskeln gehorchten nicht. Ich rannte zwar irgendwie, hatte aber kaum das Gefühl zu rennen.
    In jedem Triathlon passiert mir mehr oder weniger das Gleiche. Die Muskeln, die ich beim Radrennen über eine Stunde stark beansprucht habe und die jetzt beim Laufen weiter ihren »Dienst« versehen sollen, bewegen sich nicht mehr geschmeidig. Sie brauchen Zeit, um sich von einer Technik auf die andere umzustellen. Die ersten drei Kilometer sind sie steif, dann kann ich endlich »laufen«. Diesmal dauerte es noch länger als sonst, bis ich diesen Zustand erreicht hatte. Da mir von den drei Sportarten beim Triathlon das Laufen am besten liegt, gelingt es mir meist, etwa dreißig Leute zu überholen, aber diesmal zog ich nur an zehn oder fünfzehn vorbei. Bei meinem letzten Triathlon war ich beim Radrennen von vielen überholt worden. Da hatte ich mich diesmal etwas verbessern können. Am Ende war meine Laufleistung nicht gerade überragend, aber dafür hatte sich die Kluft zwischen den Disziplinen verringert, und meine Zeiten waren insgesamt ausgewogener. Vielleicht kam meine Konstitution allmählich doch an die eines guten Triathleten heran. Das war etwas, über das ich mich freuen konnte.
    Als ich, angefeuert von den Zurufen der Einwohner, durch die schöne Altstadt von Murakami auf das Ziel zulief, nahm ich noch einmal meine ganze Kraft zusammen. Ein glücklicher Augenblick. Quälende Zweifel und unerwartete Schwierigkeiten – alles war vergessen, als ich ins Ziel ging. Nachdem ich wieder zu Atem gekommen war, tauschten der Mann mit der 329 und ich lächelnd einen Händedruck. Beim Radrennen hatten wir einander immer wieder überholt. Wir dankten uns gegenseitig für den fairen Kampf. Als ich gegen Ende des Laufs beschleunigte, holte ich ihn beinahe ein, aber es fehlten dann doch noch ungefähr drei Meter. Kurz nach dem Start hatten sich meine Schnürsenkel gelöst, weshalb ich zweimal anhalten musste, um sie zu binden. Wäre das nicht passiert, hätte ich ihn bestimmt überholt (so zumindest meine Wunschvorstellung). Natürlich ist man selbst dafür verantwortlich, die Schuhe vor dem Rennen zu überprüfen.
    Jedenfalls war der Triathlon zu Ende, und ich war glücklich durch das Ziel eingelaufen, das man vor dem Rathaus von Murakami aufgebaut hatte. Ich war nicht ertrunken, hatte keine Panne gehabt, keine giftigen Quallen hatten mich angegriffen, kein wilder Bär hatte sich auf mich gestürzt, keine Wespe mich gestochen und kein Blitz getroffen. Meine Frau wartete an der Ziellinie, ohne etwas Unerfreuliches über mich herausgefunden zu haben, und beglückwünschte mich herzlich. Was für ein Glück!
    Das Schönste von
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