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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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Wahrheiten, die jeden Augenblick sich verändern, einbrechen können. Die Jahre können einem die Tatsachen auf unterschiedliche Weise zeigen. Man kann sogar aus den Veränderungen, aus dem veränderten Blick auf das Erlebte einen neuen und sehr erschütternden Sinn herausholen.
    Wie so viele, die ebenso wie ich ihr Judentum und die Suche nach Freiheit zugleich leben wollen, ging ich – nicht so sehr wegen der Vergebung meiner Sünden, sondern um keine Gewissensbisse zu spüren – nur bei Hochzeiten, Beerdigungen, an Jom Kippur und zu Bar-Mitzwa-Feiern in die Synagoge, die ich in der Überzeugung, ich könnte meinen Anspruch aufs ›Einheimischsein‹ dadurch besser geltend machen, im Laufe dieser Wandlungen havra 3 zu nennen gelernt hatte. Dabei hatte ich jahrelang dieses Wort zu vermeiden gesucht. Jahrelang … Gleichsam auf der Flucht vor einem anderen Fluch, den ich nicht verdient zu haben glaubte. Genauso könnte man es als Flucht betrachten, daß ich eine Zeitlang die Bezeichnung ›jüdisch‹ vermied und bevorzugt das ›feinere‹ und ›unschuldiger‹ aussehende Wort ›mosaisch‹ verwendete. Zweifellos gab es Gründe für diese Zurückhaltung. Natürlich erinnere ich mich an Erlebnisse im Zusammenhang mit gewissen Wörtern, auch wenn es lange her ist. Es ist schon bezeichnend genug, daß ich mich noch immer daran erinnere. Eine Begebenheit habe ich beispielsweise in der Grundschule erlebt. Ich ging in eine staatliche Volksschule. Unsere Klasse war wie in jeder staatlichen Volksschule sehr voll, hatte viele Schüler aus vielen Bevölkerungsgruppen. Wenn ich mich jetzt daran erinnere und darüber nachdenke, dann war unsere Lehrerin eine von den Frauen, die Probleme und Verdruß aus ihrem persönlichen Leben in die Klasse mitnehmen. Inzwischen kann ich dieser Verletztheit viel eher mitfühlend als mit Groll begegnen. Was haben die Bedingungen nicht alles in manch einem zerstört … Doch selbst wenn ich meine Erlebnisse aus dieser Sicht betrachten kann, so reicht das nicht aus, meine Kränkung zu vergessen, die entstand, weil sie oftmals, wenn wir sehr laut waren, schrie: »Hier geht es ja zu wie in einer Judenschule!«, wobei sie das Wort havra verwendete. Ich kann nicht entscheiden, ob sie aus Unbedarftheit, und weil ihr ein gewisses Feingefühl fehlte, diesen Satz so gerne gebrauchte, ob sie vielleicht eine heimliche Diskriminierung, einen Groll ausdrücken wollte oder ob es schlichtweg Unfähigkeit war, angemessenere Worte zu finden. Doch was auch immer der Grund gewesen sein mag, diese Worte waren schließlich die ersten, die mich jenes Anderssein wirklich fühlen ließen, ebenso wie diese Diskriminierung, die man immer abstreitet.
    In meiner Klasse waren noch andere jüdische Mitschüler. Keiner von uns traute sich, auf dieses erniedrigende Gerede zu reagieren, wir dachten gar nicht daran, lieber beteiligten wir uns mit innerer Bitterkeit am Gelächter der Mehrheit. Wir waren nämlich so erzogen worden, daß wir auch das Schweigen kennen und erleben sollten … Im Grunde war das eine bittere Erfahrung. Eine Erfahrung, die andauernde Auswirkungen haben sollte. Der Grund, weshalb ich das Wort havra jahrelang nicht verwendet habe, verbirgt sich in dieser Erfahrung. Doch während der Schulzeit habe ich gelernt, mich mit gewissen Verletzungen auszusöhnen. Genauso gewöhnte ich mich mit der Zeit daran, daß meiner angeborenen, nicht selbstgewählten Identität die Feigheit ebenso als Eigenschaft zugeschrieben wurde wie der Geiz. Im Laufe der Zeit traten nämlich viele Menschen in mein Leben, die an dieses Abstempeln gar nicht dachten, die sich eigentlich dafür schämten oder es lediglich als harmlose, freundschaftliche Neckerei, als Stoff für Scherze ansahen. Andererseits sieht man aber auch, je besser man sich und andere kennt, wie angebracht und richtig es ist, manche Menschen mit ihrer Ausweglosigkeit, ihren Defekten und ihren Nöten allein zu lassen. Es ist dies eine Art von Erziehung zur Weisheit. Eine Erziehung zur Weisheit, die diejenigen, die auf rutschigem Boden laufen, im Kampf ums Überleben wohl oder übel lernen und sorgfältig an ihresgleichen weitergeben müssen. Ich weiß inzwischen sehr wohl, daß diese Erziehung in der jüdischen Tradition vorkommt … Diese Tatsache war mir in meiner Kindheit natürlich nicht bekannt, auch wenn der Unterricht schon irgendwie begonnen hatte. Als ich beispielsweise zum ersten Mal hörte, wir seien geizig, lief ich betroffen und ein wenig traurig zu
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