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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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scheinbar keine große Mühe aufgewendet habe, diese persönlichen Identitäten zu wählen oder zu erlangen … Nicht grundlos habe ich das Wort ›scheinbar‹ verwendet. Es ist richtig, daß der Mensch sich in bestimmten gesellschaftlichen Gegebenheiten als Resultat einer Reihe von Zufällen vorfindet. Angenommen, meine Vorfahren wären nicht aus Spanien vertrieben worden, sie hätten sich nicht entschlossen, hierherzukommen, und hätten mit den Menschen dieser Stadt nicht fünfhundert Jahre lang die Geschichte und das Schicksal geteilt. Angenommen, mein Vater hätte mir nicht, solange ich als Kind zurückdenken kann, erzählt, daß er ein Anhänger von Fenerbahçe sei, hätte mir nicht von den berühmten Toren von Lefter erzählt … Meine Wahl, meine wirklich eigene Entscheidung zeigte sich in späteren Jahren, als ich beharrlich auch weiterhin dabeiblieb. Selbst wenn man den Preis dafür zahlt, bringt man es einfach nicht übers Herz, wegzugehen, sich zu trennen … Denn mit der Zeit kann man sich für das Dableiben glaubhafter finden, für wertvoller ansehen. Zwar war ich als Mensch, der aufgrund seines unauslöschlichen geschichtlichen Erbes Rassismus in jeder Form ablehnte, Freiheit in jeder Form offen begrüßte, stets wütend darüber, mit denjenigen dieselbe Sprache und die Grenzen des Landes teilen zu müssen, die weiterhin so niveaulos waren, das Wesen ihres Nationalbewußtseins darin zu sehen, alle, die sie für anders hielten, vor die Wahl zu stellen, dieses Land entweder zu lieben oder zu verlassen. Doch vor allem in meiner Zeit im Ausland und jedesmal, wenn ich mich an jenen schmerzbeladenen antiimperialistischen Kampf erinnerte, war ich auch stolz darauf, mit meiner ganzen Existenz diesem Land verbunden zu sein. Wobei ich nicht so sehr an ein Vaterland glaube, sondern an kulturelle Sphären und an örtliche Besonderheiten … Auch wenn ich oft erlebt habe, besser gesagt schmerzlich erleben mußte, daß ich nicht wirklich als Türke akzeptiert worden bin, nur weil ich Jude bin, nur deswegen. Ich bin in diesem Land, an das ich mich vor allem gefühlsmäßig gebunden fühle, für manche ein Türke im weiteren Sinn, für manche ein Jude mit einem Personalausweis der Republik Türkei. Doch inzwischen habe ich dermaßen viele Augenblicke, Informationen und Beweise für diese ›Fremdheit‹ erlebt, daß ich mich nicht besonders anstrengen muß, das Wort ›Fremder‹ zu benutzen. Es ist nicht mein Wort, vielmehr ein Wort, das zeitweilig in den Gesetzen vorkommt, wodurch ich unwillkürlich ebenfalls dazu gebracht wurde, es zu benutzen und zu fühlen. Ist es nicht vielsagend genug, daß die Immobilien der Stiftungen der ethnischen Minderheiten als ›fremdes Besitztum‹ angesehen werden? … Ich will gar nicht weiter auf den Umstand eingehen, daß für Angehörige dieser ›Andersartigen‹ viele Berufe im Staatsdienst ›verboten‹ sind, daß sie sogar wie Staatsfeinde als ›Sicherheitsrisiko‹ eingestuft werden. Denn wer diese Dinge aufrollt, wird eines Tages mit ›unerwünschten‹ Folgen konfrontiert werden, wenn das, was er sagt, jemandem ›allzusehr‹ prüfend und verhörend erschienen ist; dann bewahrheitet sich das Sprichwort ›Der Wolf reißt die Schafe, die sich von der Herde entfernen‹, und es bewahrheiten sich die Befürchtungen jener, die immer ›Laß das!‹ sagen oder ›Wühl das jetzt nicht auf!‹. Unsere Geschichte überliefert genügend Beispiele dafür, daß manche ›Fehler‹ sehr teuer bezahlt werden mußten. Solange der Mensch sich an diese Beispiele erinnert, gelingt es ihm besser, auf rutschigem Boden zu gehen …
    Doch wenn ich mein Leben flüchtig an mir vorbeiziehen lasse, sehe ich andererseits, daß ich meine engsten Freundschaften, ja sogar gefühlsbetonten Beziehungen mit Menschen erlebt habe, die diese Unterschiede für unwichtig hielten, obwohl sie im Vergleich zu mir in diesem Land ›türkischer‹ geboren waren. Das gehört zu den wichtigsten Aspekten meines Schicksals an diesem Ort. Sonst würde ich wahrscheinlich nach all den Jahren meine persönliche Geschichte nicht so weit ausbreiten und dabei manche Möglichkeiten und Gefahren riskieren … Ich bin in diese Geschichte verwoben … Die Stadt, die es mir ermöglicht hat, mich zu erschaffen, die mich fest an sich bindet, die mich in keinem anderen Gefühlsklima existieren läßt, erwartet auch diese Geschichte von mir. Es macht einen großen Unterschied, ob man nur in Istanbul lebt oder ob man Istanbul
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