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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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meinem Großvater, um von ihm ›die Wahrheit erklärt‹ zu bekommen. Ich erinnere mich noch heute gut an die Antwort auf meine Frage: »Ist es wahr, daß wir geizig sind, wie sie sagen?« Die Antwort war, begleitet von einem warmen, vielleicht ein wenig traurigen Lächeln, ein einfacher, aber wunderbarer Satz, der heute für mich eine andere Bedeutung hat und von feinem Humor aus der Tradition durchdrungen ist: »Nein, geizig sind wir nicht … Wir sind nur ein wenig sparsam …« Als ich den Großvater dann nach seinen Gedanken bezüglich der Feigheit fragte, verneinte er diese Etikettierung wieder lächelnd, wobei er seinen Kopf leicht schüttelte, dann murmelte er nach kurzem Nachdenken seine Antwort: »Vielleicht sind wir ein wenig vorsichtig …« Es dauerte sehr lange, bis ich die Tiefe des Humors, ja sogar die Melancholie darin begriff. Das ist das Schicksal mancher Aussprüche.
    Wenn ich mich an diese Vorfälle erinnere, ergreift mich natürlich ein Gefühl der Unsicherheit. Auch wenn ich glaube, das Recht zu haben, zu sagen, ich sei mehr als viele andere Menschen in dieser Stadt ein Einheimischer, sogar ein Hausherr … Wie viele Menschen, die heute in Istanbul leben, können sich einer fünfhundertjährigen Geschichte ihrer Familie in dieser Stadt rühmen? … Trotz dieser Tatsache ist meine Vergangenheit auch voller Widersprüche. So etwa, wenn ich mich daran erinnere, wie meine Großmutter mütterlicherseits mit ihren Freundinnen auf der Straße Ladino sprach, weil sie nichts anderes konnte, und dafür von vielen Menschen verspottet wurde … Damals schämte ich mich neben ihr und wollte woandershin gehören, wo ich dieses mein Anderssein nicht erleben und zeigen mußte. Wie unrecht war das doch von mir. Wie Kinder halt sind … Woher hätte ich wissen sollen, daß das eigentliche Problem ganz woanders zu suchen war … Meine Großmutter und ihre Altersgenossinnen hatten sich nicht absichtlich dafür entschieden. Als sie Kinder waren, kam es gar nicht in Frage, daß sie türkische Schulen besuchten. In der geschlossenen Welt, in der sie lebten, in dieser über Jahrhunderte hin bewahrten Sprachwelt, in jenen selbstgenügsamen Beziehungen war das zudem gar nicht erforderlich. In ihrem bescheidenen Leben, in dem sie zur Mutterschaft in einer Familie erzogen wurden, brauchten sie nicht viel zu lernen. Das waren die Tage, in denen jene Menschen in ihrem zurückgezogenen Leben ein anderes Miteinander, eine andere Gemeinschaft, ein anderes Aufeinanderangewiesensein erfuhren, ohne an weitere Möglichkeiten zu denken … Nun gut … Das ist lange vorbei … Ich denke jetzt nur noch daran, wenn die Rede darauf kommt. Und ich sage mir so oft wie möglich, daß sowohl das Leben als auch dieses Land andere, wichtigere Probleme und Wahrheiten haben …
    Das Land, in dem wir leben, hat derart viele miteinander verknüpfte Fragen, soviel Unbeantwortetes und so vieles, worüber man nicht sprechen kann … Wir versuchen an einem so schwierigen Ort zu atmen … So viele Menschen lassen andere nicht atmen, die sie für fremd erklären … Davon abgesehen, manchmal denke ich, daß im Grunde jeder Jude, wo auch immer auf der Welt, unwillkürlich mit der Angst lebt, ausgegrenzt, überfallen oder sogar vernichtet zu werden. War das vielleicht eine der unausweichlichen Folgen des Gefühls von langer Verbannung, das noch tiefer sitzt als das, was durch den Glauben und die Gebete weitergegeben wurde? Vielleicht … Vielleicht aber war im Gegenteil diese Angst, die den Menschen um so mehr ans Leben bindet, und die in unterschiedlichen Weltgegenden in unterschiedlichen Formen und Ausmaßen mit unterschiedlichen Toden tradiert wurde, eine andere Form des Überlebenskampfes. Mit dieser Möglichkeit mußte ich in meinem Leben immer rechnen. Deshalb habe ich die Gefühle der Menschen, die einer Minderheit angehören, sich als solche zu betrachten gezwungen waren, immer tief in mir gefühlt … Dort war die Bedrohung. Dort waren auch die finsteren Spuren der Kulturen, die auf Ruinen und Mord gegründet waren am Rand eines Abgrunds, den man immer verleugnen wollte. Die Verbannungen atmeten in der Tiefe dieser Finsternis. Ich hatte gesehen, was ich sehen konnte, und auch, was ich nicht sehen wollte … Denn die Geschichte war lehrreich … Diese Worte habe ich nie vergessen.
    Doch was bleibt nach alledem? … Wenn doch alles vorübergeht … Wenn alles ein Ende hat … Wenn die Gräber so sehr in uns sind … Das ist schwer, wirklich
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