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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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schwer zu beantworten … Was ich von hier aus nur habe sehen können, ist, daß jede Gesellschaft, die ihr Selbstvertrauen verloren hat oder die sich ihrem Leid irgendwie nicht stellen kann, jedes Anderssein, mit dem sie sich konfrontiert fühlt, als Bedrohung wahrnimmt. Genauso empfinden Menschen, die gezwungen sind, mit ihrer Ausweglosigkeit und dem Gefühl der Niederlage zu leben, Menschen, denen es nicht gelingt, mit sich selbst ins reine zu kommen … Dabei bedroht keiner keinen, wenn man sich diese Unterschiedlichkeiten als etwas Zusammengehöriges denkt … Jedermann will eigentlich nur selbst leben … Leben, wie er es für sich selbst für richtig hält. So einfach ist die Sache im Grunde …
    Diese Überzeugung wird mehr als bestätigt durch das, was die Helden des langen Spiels, das ich jahrelang gespielt und dem ich zeitweilig auch still zugeschaut habe, mit ihren Gefühlen und Zuständen im Verlauf ihres Lebens erlebt haben.

Jetzt lachen jene Gesichter in mir
    In jenem Laden in Bahçekapı wurde über alles gesprochen, worüber jeder spricht, der mit seiner Arbeit oder seinem Leben unzufrieden ist: über Politik, über Fußball, über Frauengeschichten – als hätte man viel Ahnung davon –, doch ehrlich gesagt kamen niemandem die Mauern in den Sinn, die die Glaubensunterschiede zwischen den Menschen errichten. Mein Vater fühlte sich wie viele seiner jüdischen Altersgenossen von ganzem Herzen mit der Tradition der Demokratischen Partei ( DP ) verbunden. Aus seiner Sicht war das Erhängen von Menderes eine Schande und das größte politische Verbrechen in der Geschichte dieses Landes. In späteren Jahren war er natürlich Anhänger von Demirel und seiner Gerechtigkeitspartei ( AP ). Inönü hingegen haßte er im wahrsten Sinne des Wortes. Sein Haß resultierte aus der Minderheitenpolitik von Inönü. In jener Epoche mußten die Menschen, nach allem, was sie mitgemacht hatten, trotz all ihres guten Willens notgedrungen einsehen und akzeptieren, daß sie nicht als echte Staatsbürger dieses Landes galten. Es war unmöglich zu vergessen oder zu verzeihen, was ihnen angetan wurde. Mit der Zeit habe ich diese Kränkung sehr stark innerlich verspürt. Ich konnte nicht anders, als über das Geschehene traurig zu sein. Allmählich habe ich auch erkannt, daß diese finstere Epoche des Nationalen Chefs, 4 an die sich manche als eine ruhmreiche erinnern wollen, die brutalste faschistische Epoche in der Geschichte dieses Landes war. Es wurden viele Fehler gemacht, und das Volk wurde dem Staat langsam entfremdet. Dabei hätten auch wir uns gerne aus ganzem Herzen an dem Kampf für ein gerechteres Land beteiligt.
    Was waren das damals doch für Zeiten … Mit einem bitteren Lächeln denke ich heute an das Erlebte. Mit einem bitteren Lächeln … Einerseits, weil ich den jungen Mann, der jene Tage mit einer derartigen Begeisterung erlebte, nun mit anderen Augen sehen kann, andererseits, weil ich nach all den Jahren besser verstehe, daß jene Begeisterung echt war, daß der Aufstand gegen jenes Besudelte sehr rein, sehr sauber war … Und weil jener junge Mann mich manchmal dauert … Und weil ich zugleich stolz auf ihn bin … Weil ich mich nach dieser Reinheit, dieser Verletzlichkeit und Schutzlosigkeit sehne. Und weil es mir letztlich nicht gelungen ist, allen mitzuteilen, daß die Helden jenes Spiels die wahren Helden des Landes, meines Landes sind. Ich war im zweiten Studienjahr, als ich versuchte, die Angestellten im Laden meines Vaters gegen meinen Vater, ihren faschistischen Arbeitgeber, zu ›organisieren‹ … Was für eine Komödie war das doch … Insgesamt vier Leute arbeiteten im Laden. Insofern könnte man sich an das Spiel auch als ein Drama, sogar eine Tragödie erinnern. Doch nachdem ich mich gezwungenermaßen mit der Realität und so vielen Verlusten habe auseinandersetzen müssen, nehme ich lieber Platz auf jenem Beobachterstuhl, um mir noch einmal eine Komödie anzusehen …
    Die Komödie haben die Helden des Spiels, zu dem ich willentlich selbst gehörte, geschrieben … Kemalettin Bey aus Fındıkzade 5 beispielsweise war mindestens so konservativ wie mein Vater; mit seiner stets sorgfältigen Kleidung, in seinen sauberen, aber inzwischen völlig verschlissenen weißen Hemden, seinen längst unmodern gewordenen, alten Krawatten, die früher von einem guten Geschmack gezeugt hatten, mit seinen dunklen Anzügen, seinem Henkelmann, in dem er das Mittagessen von zu Hause mitbrachte, und durch
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