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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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lebt … Um das andere Istanbul zu erleben, zu fühlen, muß man die unterschiedlichen Stimmen von Istanbul hören … Die Tiefe der Stadt konnte nur auf diese Weise bewahrt werden. Die Erzählung, die ich erlebt habe, war meine Geschichte, kurz gesagt, meine Sprache … Zudem brauchte ich diese Erzählung auch, um mein Leben zu retten … Im Dunkel dieser Erzählung atmet zugleich diese unabwendbare, nicht gewählte, vielmehr alternativlose ›Fremdheit‹, das Angehaltenwerden an einer bestimmten Grenze, das gefühlsmäßige Wissen, niemals völlig im Zentrum leben zu können, und die Drohung, jederzeit die Koffer packen zu müssen. Selbst wenn die nicht immer beschreibbaren Kränkungen, die aus der Andersartigkeit resultieren, viel weniger verletzend sind als Dinge, die in manchen angeblich zivilisierten Ländern vorkommen, die seit Jahrhunderten versuchen, ihre Kultur in dieses Land zu exportieren … Zunehmend kann ich die Realität besser sehen und verstehen. Dennoch will ich jetzt endlich nicht mehr alles, was ich erlebt habe, vergessen und aus meinem Leben verbannen.
    Ich habe das alles erlebt, obwohl ich in den Augen vieler Juden kein guter Jude bin. Beispielsweise halte ich den Schabbath nicht ein. Ich kenne in dieser Stadt nur wenige, die ihn wirklich vollständig einhalten. In unserem Haus wird am Freitagabend kein Kiddusch-Gebet gesprochen. Natürlich sage ich kein schlechtes Wort über diejenigen, die beten. Manchmal verschafft es mir sogar eine kleine Freude, wenn ich sehe, daß manche Menschen an ›etwas‹ glauben, das sie nach Wunsch benennen und erleben, das sie ans Leben bindet. Im Grunde ist das eine traurige Freude. Denn ich selbst bin derart gebrochen, daß ich die hierfür nötige Naivität und Einfalt nicht mehr aufbringe. Trotzdem begehe ich weiterhin zusammen mit Freunden, weil ich meine große Familie längst verloren habe, die Pessach-Feste. Vielleicht geht es bei dieser Neigung nicht so sehr um den Glauben und die religiösen Pflichten, sondern um das Bedürfnis, die Jahre der Kindheit aufleben zu lassen. Auch wird auf diese Weise die Tradition durch jemanden weitergegeben … Wie wichtig das inzwischen auch sein mag …
    Meine Frau Çela, mit der ich seit fast fünfundzwanzig Jahren mein Leben teile, ist in jeder Hinsicht den Traditionen verbunden und in diesen Dingen immer viel gewissenhafter als ich; ja, die Frau, die ich manchmal als das Symbol meiner Kapitulation ansah, hat sich stets auf die Traditionen gestützt, wie man so sagt. Deswegen wunderte ich mich nicht, daß sie sich sehr bemühte, unsere Kinder in den Werten, die sie erfüllten und umgaben, mehr noch gemäß den historischen Erwartungen zu erziehen. Hatte das irgendeinen Nutzen? … Heute fällt es mir sehr schwer, diese Frage zu beantworten. Denn mein Leben ist nach dem, was ich zuletzt erlebt habe, gehörig durcheinandergeraten. Eine Szene, die sich nicht im Text befand, die nicht geschrieben war, mehr noch, die zu schreiben ich in meinen langen, scheinbar ruhigen Jahren kaum für möglich gehalten hätte, hat den Ablauf des Stückes vollständig verändert. Ein Bote kam unerwartet auf die Bühne und sprach die Repliken, die mich zu jener Erzählung hinriefen … Die Reise konnte sowieso nur unter dem Eindruck einer solchen Begegnung beginnen …
    Einst war ich stark davon überzeugt, daß Traditionen ein vernichtendes, ein tödliches Gesicht haben … Die Nachwehen dieser Überzeugung sind immer noch in mir vorhanden. Der Unterschied besteht darin, daß ich, wahrscheinlich auch unter dem Einfluß dessen, was die Jahre einem aufzwingen oder wegnehmen, wohl einen Großteil meiner Härte, meiner Kampfkraft verloren habe. Wann und wo habe ich diesen Widerspruchsgeist, das Protestgefühl verloren? … Wer weiß … Was für einen Sinn hat es, wenn ich mich zu erinnern bemühe? … Ich habe wahrscheinlich irgendwann aufgegeben, mein Außenseitertum zu spielen. Vielleicht befürchtete ich auch, noch mehr in die Minderheitenposition zu geraten. Anfangs war ich sehr unsicher, ob dieser Rückzug von manchen nicht als Feigheit ausgelegt werden könnte. Meine Entscheidung paßte überhaupt nicht zu mir, zu der Rolle, die ich für mich entworfen hatte, um mich ans Leben zu binden. Das ist mir inzwischen aber gleichgültig. Es ist mir auch gleichgültig, daß ein ehemaliger ›Revolutionär‹ an so einen Ort gerät oder sich selbst dort einsperrt. Schließlich hat jedes Leben seine eigene Wahrheit oder, besser noch, offene
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