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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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rechtschaffen gelebt hatte. Nachdem die sieben Trauertage vorbei waren, sammelte ich seine persönlichen Sachen im Laden ein. Und genau an jenem Tag geschah es … An jenem Tag mußte ich plötzlich bitterlich weinen. Sein kleines braunes, in Leder gebundenes Heft, in das er seine Schulden und Außenstände sorgfältig eingetragen hatte, lag in einer der Schubladen des Tisches … Die Zeit war dort stehengeblieben … Als wäre dieses Heft die Zusammenfassung seines Lebens … Wahrscheinlich war das der Tag, an dem ich ihn begrub, endgültig begrub …
    Nach diesem Tag veränderte sich das Gesicht des Ladens schneller. Jetzt gibt es nur noch ein Bild, das von jenen alten Tagen erzählt. Eine kleine Ecke … Dort stehen die alten Glaszylinder voll Kölnisch Wasser mit Zitronen- und Lavendelduft, die mein Vater so gerne zusammengemischt hatte. Neben diese alten Zylinder legte ich jenes braune Heft. Wer Augen hat, sieht es, wer sich erinnern will, erinnert sich. Warum ich das tat, fragte ich mich nicht. Vielleicht wollte ich mich ständig daran erinnern, daß er nun tot war und daß sein Leben nur aus ein paar kleinen Rechnungen bestanden hatte. Also hatte ich unter anderem wohl auch das Verlangen nach Rache … Nun ja, wenn ich jetzt nach so langer Zeit bedenke, daß mein Vater wie viele andere Juden im Glauben an das für ihn Richtige gelebt und seine Tage auf dieser Erde im Wissen um sein Schicksal geduldig erfüllt hat, werde ich etwas weicher, doch es schmerzt immer noch. Was ich auch anstelle, die Distanz zwischen uns, dieser Abstand, der mir immer sehr weh getan hat, schließt sich trotzdem nicht. Hätten wir diese Distanz nicht in dieser Weise erlebt, hätte ich dann einen anderen Weg einschlagen können? Wer weiß … Um das zu fragen, ist es zu spät … Es ist sogar zu spät auszusprechen, daß ich inzwischen sehr gut verstehe, was Seyfettin Abi meinte, der bei der Beerdigung meines Vaters am traurigsten aussah und der mich in meinen schweren Tagen, als ich über die Trümmer zu gehen und mich selbst zu finden versuchte, am meisten an den Laden band. Seyfettin Abi war mir durch seine Intellektualität und eine Menge anderer Eigenschaften stets sehr nahe gewesen. Er war wohl ungefähr so alt wie mein Vater. Und wie gut gelang es ihm doch, Trauer und Humor miteinander zu verbinden … Das war so an dem Tag, als er sagte, die Freimaurer hätten ihn ausgeschlossen, und das war auch an jenem Tag so, an dem er erklärte, er sei ein Bektaşi-Bruder, ebenso wie an dem Tag, an dem er behauptete, seine Frau habe seit Jahren nicht mehr mit ihm gesprochen … Die Geschichte, die ich mit ihm erlebt habe, ist inzwischen sehr lang und vielschichtig … Vielleicht gelingt es mir eines Tages, auch an ihn zu erinnern, so wie er es verdient.
    Als ich ihn an jenem Tag der Beerdigung fragte, warum er so traurig sei, sagte er mit Tränen in den Augen: »Ich trauere nicht so sehr über den Tod des Verstorbenen, vielmehr über dich.« Damals konnte ich seine Worte nicht verstehen. Ich stand sehr unter Druck. Ich wollte, daß die Zeremonien so schnell wie möglich vorbei wären. Auch war ich wütend, daß mein Vater gerade jetzt gestorben war, denn ich hatte beabsichtigt, am Wochenende zum Fußballspiel von Fenerbahçe gegen Beşiktaş zu gehen, doch nun mußten wir zu Hause bleiben und die Trauertage absitzen. Deswegen verstand ich das, was Seyfettin Abi sagen wollte, erst Jahre später, als die Zeit dafür gekommen war. Wahrscheinlich hatte es ihm großen Kummer bereitet, daß ich nach diesem Todesfall gezwungen war, mich einem Leben zu ergeben, dem ich trotz aller kleinen Erfolge eigentlich immer fernstehen würde. Nun, lassen wir das … Ich habe mich auch längst an diese Unterlassungen, diese Verschleppungen gewöhnt … Wie könnte ich sonst diese stillen Morde erklären, die ich an unterschiedlichen Orten auf unterschiedliche Weise begangen habe? … Wie könnte ich sonst so nahe an der schmalen Grenze zwischen Leben und Tod verweilen? … Fragen waren mein Spiel, sie waren zugleich die Fragen jenes Spiels … Ich habe so sehr an dieses Spiel geglaubt …

Worte, Farben, Schatten
    Mein Name ist Isaak. Ich war immer stolz darauf, ein eingefleischter Istanbuler zu sein, der seine Verbundenheit und Zugehörigkeit zu der Stadt bei jeder Gelegenheit zur Sprache bringt, aber genauso stolz, ein Anhänger des Fußballklubs Fenerbahçe zu sein, was mir bis zum heutigen Tag viele aufregende Momente verschafft hat. Auch wenn ich
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