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Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach

Titel: Wo wart ihr, als die Finsternis hereinbrach
Autoren: Mario Levi
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Leben meines Vaters zu verschwinden. Zudem erlebte ich noch andere Enttäuschungen. Das England, das ich erleben mußte, war nicht nur das Land jener schönen Häuser mit Gärten. Außerdem sprach in diesem Land nicht jeder ein gutes Englisch, und unglückliche, frustrierte Menschen gab es mehr, als ich erwartet hatte. Das konnte man in der Londoner Metro leicht beobachten. Der Westen, den ich dort sah, war erschöpft und mitleidlos, ein hinter seinen Lichtern verborgener, sehr finsterer Westen. Ein Westen, der seine Fremden zermalmte und auf unterschiedliche Weise umbrachte … Das war eine der größten Krisen meines Lebens. Gleichzeitig erkannte ich plötzlich, daß ich nicht ohne Istanbul würde leben können … Nun gut … Auch diese tiefe Enttäuschung, die mir zugleich eine radikale Selbsterkenntnis bescherte, liegt inzwischen lange zurück. Damals bin ich heimgekehrt. Oder bin ich ein weiteres Mal geflohen? Es schien, als hätte ich in London einen Traum zurückgelassen, der sich aus Lügen nährte. Als hätte ich irgendwo eine Chance begraben … Jedoch ohne zu verstehen, was ich wie ermordet hatte … Und ohne eine Ahnung davon, wie teuer mich dieser stille, lautlose Mord einmal zu stehen kommen würde … Damals war ich noch weit entfernt von der Begegnung und dem Konflikt, der mein Leben von Grund auf erschüttern sollte.
    Über meine Rückkehr freuten sich die Daheimgebliebenen in unterschiedlicher Weise. Natürlich konnte ich mich dieser Freude unmöglich anschließen. Meine Mutter wiederholte unaufhörlich, daß ihre Gebete erhört worden seien, mich mit einem Mädchen ›von hier‹ und ›aus unseren Kreisen‹ zu verheiraten, und sie versuchte nach Kräften, mich, der ich nun auch dieses Abenteuer unversehrt und ohne Schaden überstanden hatte, in ihre eigene Welt hineinzuziehen, in ein Leben, das sie für das richtige hielt, das in den Bahnen der Tradition geordnet ablief. Zweifellos verband sie mit diesen Worten keinerlei schlimme Absicht. Ich jedoch hätte sie aus dem Gefühl heraus, nicht wirklich wahrgenommen, akzeptiert zu werden, am liebsten geohrfeigt. Doch eigentlich war nicht sie es, die ich schlagen wollte, sondern die unverzichtbaren Werte, die sie vertrat.
    Mein Vater begnügte sich damit, diesen Szenen wortlos, einfach nur lächelnd zuzuschauen. Auch er genoß natürlich seinen Sieg. Ich konnte nicht sagen, was ich in London zurückgelassen hatte. Ich wußte es selbst nicht genau. Ich fühlte nur einen tiefen Schmerz, eine Mattigkeit in mir. Auch von diesem Gefühl hätte ich ihm nichts erzählen können. Wir konnten nichts für uns Wichtiges offen miteinander besprechen. Vielleicht bemühte ich mich deshalb in jenen Tagen, sein ›geistreiches‹ Urteil über mich als Nichtsnutz weiter zu verstärken. Kurze Zeit nach meiner Rückkehr ging ich eines Morgens zu ihm in den Laden und verkündete ihm, ich wolle ein kleines Restaurant eröffnen. Ein kleines, gemütliches, legeres Restaurant. Genau wie das Leben, das ich zu führen erträumte … Hinter diesen Worten verbarg sich natürlich auch die Bitte um finanzielle Hilfe. Doch dieser Krämer, der jahraus jahrein Drogeriewaren hergestellt, Sommersprossenmittel, Schwefelseife, Talkumpulver, Enthaarungspaste, Präservative aus China, Brillantine und Rasierpinsel verkauft, der stets zu rechnen gewußt hatte und sich rühmte, er habe niemals einen Wechsel zu Protest gehen lassen, war unmöglich von diesem Geschäft zu überzeugen, und erst recht nicht wollte er darin investieren. Er hatte wieder einmal Gelegenheit, mich an meiner verwundbarsten Stelle zu treffen. Anstelle von Geld bekam ich Vorhaltungen, anstelle von unterstützenden Worten mußte ich mir noch einmal eine seiner wohlbekannten Ansprachen anhören. Wie viele Jahre ich nutzlos Wirtschaftswissenschaften studiert hätte. Für das Geschäftsleben wäre die wahre Universität sowieso die Straße. Dieses Vorhaben hätte weder Hand noch Fuß, und es käme ihm so vor, als wollte ich ihn immer nur ruinieren. Diese Reden brachte er überdies in Ladino vor. Das bedeutete, sowohl sein Zorn als auch seine Besorgnis waren echt. Immer wenn er sehr wütend war, benutzte er diese Sprache. Ebenso, wenn er sich sehr freute oder unbedingt ein Geheimnis mitteilen wollte … Er glaubte, sich in dieser Sprache sowohl zwangloser als auch wirkungsvoller auszudrücken. Es war mir egal. Genauso wie es mir egal war, daß er mir erneut meine Nichtsnutzigkeit vorhielt. Als ich an jenem Morgen den Laden
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