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Wenn Eltern es zu gut meinen

Titel: Wenn Eltern es zu gut meinen
Autoren: Polly Young-Eisendrath
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Einleitung
    Ich habe dieses Buch geschrieben, weil ich mit meinem Latein am Ende war. Ich hatte Stunde um Stunde in meiner psychotherapeutischen Praxis zugebracht, voller Mitgefühl mit besorgten Eltern, die es beunruhigte, dass es ihren Kindern - Teenager und älter - an gesundem Menschenverstand und an Einfühlungsvermögen für andere mangelte, und viele weitere Stunden mit gebildeten Erwachsenen in den Zwanzigern und Dreißigern, die mit ihrem attraktiven Leben bereits unzufrieden waren, und noch weitere Stunden mit jungen Müttern, die für sich und ihre Kinder unerreichbare Ideale aufstellten. Eines Tages hakte etwas in mir aus. »Es reicht!«
    Ich hatte jedes Buch über das Idealisieren und Verwöhnen unserer Kinder gelesen, das es gab. Doch all dieser Lektüre zum Trotz konnte ich keinen Ansatz finden, der es mir oder meinen Klienten erlaubte, aus dem zementierten Denken auszusteigen, in dem wir festsa ßen. Es fühlte sich an, als hätten wir Klebstoff unter den Füßen. Dieses zementierte Denken ist die in unserer Kultur vorherrschende Einstellung, dass jeder etwas Besonderes ist, zum Erfolg geboren und potenziell großartig. 1 Innerhalb dieses zementierten Denkens glauben wir, jeder habe etwas Außergewöhnliches zum Leben beizutragen und es sei blamabel, ein ganz gewöhnlicher Mensch zu sein. Diese Einstellung fordert Eltern und Kindern viel ab und sorgt für eine übermä ßige Selbstbezogenheit und das unerbittliche Verlangen,
zu den Besten zu gehören und das Beste zu haben. Und auch wenn Erziehungsexperten das, was sich innerhalb dieses zementierten Denkens abspielt, kritisch untersucht haben, waren wir bislang nicht imstande, es zu verlassen. Auszusteigen tut sehr weh, wenn wir es uns persönlich ankreiden, überhaupt da rin festzustecken, oder keine andere Alternative sehen, glücklich und selbstbewusst zu sein.
    In den 70er- und 80er-Jahren des 20. Jahrhunderts starteten Lehrer und Eltern eine Kampagne, um etwas gegen den geringen Selbstwert unserer Jugendlichen zu unternehmen. 2 In der Hoffnung, die Kreativität und den Selbstausdruck der Kinder zu stärken, entstand durch diese schulische und gesellschaftliche Be wegung ungewollt das, was ich die »Selbstwertfalle« nenne: unrealistische Fantasien von Leistung, Reichtum, Macht und Berühmtheit. Wenn sich diese Erwartungen im Erwachsenendasein - zwangsläufig - nicht erfüllen, resultiert daraus eine negative Selbsteinschätzung. Und die Falle einer negativen Selbsteinschätzung kann man nicht mit noch stärkerer Konzentration auf das eigene Selbst entschärfen oder umgehen. Es gibt bereits ein paar gute Bücher zu diesem Thema; einige basieren auf Analysen und andere auf klinischen Beobachtungen. 3 Sie beschreiben ein und dasselbe Prob lem, obwohl sie es verschieden benennen. Und doch hat niemand die Ursachen des Problems aufgedeckt oder die Lösung gefunden. Zwanghafte Selbstbezogenheit, rastlose Unzufriedenheit, der Druck, außergewöhnlich zu sein, die Weigerung, erwachsen zu werden, Gefühle der Über- (oder Unter-)legenheit und übermäßige Versagensangst sind die Leitsymptome des Problems, die die Betroffenen und die, die sie beobachten
- Therapeuten, Pädagogen, Eltern und Groß eltern - schildern.
    Ich könnte mit Etiketten wie »Narzissmus« und »Anspruchshaltung« hantieren, aber ich halte sie für beleidigend, besonders wenn sie als Urteil, Diagnose oder Anklage verwendet werden. 4 Statt zu etikettieren, möchte ich, dass wir uns aus dieser gefährlichen Falle befreien und uns und andere nicht weiter anklagen. Deshalb habe ich mich entschieden, selbst ein Buch darüber zu schreiben. Ich habe schon viele Bücher geschrieben und viele Vorträge vor Laien und Fachleuten über die Entwicklung im Kindes- und Erwachsenenalter gehalten. Bücher zu schreiben hilft mir zu verstehen, was ich nicht verstehe.
    Ich glaubte, für dieses Buch das nötige Rüstzeug mitzubringen. Seit über zwanzig Jahren bin ich als Jung’ sche Analytikerin, Psychologin und Psychotherapeutin tätig. 5 Innerhalb der breiteren Fachrichtung der Psychoanalyse bin ich auch gut vertraut mit einem Spezialgebiet, das »Ichpsychologie« genannt wird und sich mit den Wunden befasst, die entstehen, wenn wir von unseren Eltern übermäßig idealisiert oder herabgesetzt wurden. Mein Forschungsgegenstand und mein akademischer Hintergrund ist die Entwicklungspsycho logie, und ich lehre und forsche eingehend über die Entwicklung in Kindheit und Jugend.
    Aber die Arbeit an diesem
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